Come voleva la prassi
von Andrea Camilleri
Montalbano und sein Team lösen einen abscheulichen Missbrauchsfall – die Spitze eines Eisbergs, hinter dem eine Clique hochrangiger Personen steckt. Doch zu wissen genügt nicht: Um Gerechtigkeit herzustellen, muss auch die gängige Praxis eingehalten werden.
Am Ende des Tages ...
So sehr sich die Männer vom commissariato in Vigàta auch abmühen: All ihre Fortschritte scheinen zunichtegemacht zu werden. Die Verdächtigen winden sich geschickt aus ihrer Verantwortung, ihre professionellen Helfer haben jede Menge Tricks auf Lager, um sie aus der Schusslinie zu halten, aber am perfidesten und effizientesten sind die Knüppel, mit denen die Vorgesetzten im Justizapparat die Ermittlungen von Montalbanos Team konterkarieren. So droht der Film, je näher er zum Ende kommt, auf eine traurige Niederlage der Gerechtigkeit hinauszulaufen.
Bereits der Anfang ist deprimierend und provokant wie kaum ein anderer der Reihe. Die Kamera folgt einer jungen Frau, die sich kaum auf den Beinen halten kann. Ihr nackter Körper ist übersät von blutenden Wunden. Sie schleppt sich zu ihrem Auto, fährt eine Weile wie in Trance durch die nächtlich verlassenen Straßen, hält vor einem fremden Hauseingang, torkelt hinein, stürzt und stirbt dort.
Die Ermittler finden heraus, dass sie Opfer eines unfasslich grausamen Missbrauchs wurde. Was mit Prostitution begann, weitete sich aus, auf der Suche nach immer perverseren Thrills wurden immer neue Grenzen überschritten, bis jeglicher Respekt vor menschlicher Würde, jegliches Mitgefühl im egozentrischen Sex-Rausch verloren war. Entscheidend für den Verlauf der Aufklärung ist, dass die Organisatoren und die Teilnehmer der menschlich abgründigen Zusammenkünfte keine ›einfachen‹ Kriminellen sind, derer man mit den gängigen Methoden habhaft werden und die man sodann ihrer gerechten Strafe zuführen könnte. Hier geht es um geschickt abgeschottete Orgien, die von und für Männer aus höchst einflussreichen Kreisen nach deren Bedürfnissen veranstaltet werden.
Ihre raffinierten Machenschaften zu durchschauen ist schwierig genug, aber Montalbano, Fazio und Mimì sind erstklassige Ermittler und kommen Drogenhandel ebenso auf die Spur wie dem Nachschub junger Mädchen aus Osteuropa. Doch das reicht hier nicht aus. Am Ende der Recherchen haben sie alle denkbaren Beweise und Dokumente zusammengetragen und, exakt wie es der gängigen Praxis entspricht, bei der Staatsanwaltschaft abgeliefert. Doch dann verlaufen deren Aktivitäten immer mehr im Sande, die Anklagen zerbröseln Stück für Stück, und wichtige Dokumente und Beweise verschwinden auf rätselhafte Weise. Freilich kennt Salvo Montalbano auch diese Seite der »gängigen Praxis« und hat im Vorfeld kluge Vorkehrungen getroffen. So bleibt am Ende vielleicht doch die Hoffnung, dass Gerechtigkeit geübt und die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden können.
Drei Kriminalerzählungen aus Andrea Camilleris ersten (1998, 1999) und aus der aktuellsten (2014) Sammlung kürzerer Texte haben die Drehbuchschreiber für diesen Film auf besonders stimmige, überzeugende Weise verflochten. Den zentralen Plot bildet der Kurzroman gleichen Titels (»Come vuole la prassi | Gängiger Praxis entsprechend«), während die beiden anderen (»La revisione | Die Prüfung« und »Quello che contò Aulo Gellio | Die Geschichte von Aulus Gellius«) dessen grausamer Handlung eine philosophische Fragestellung bzw. eine persönlich-menschliche Note hinzufügen.
Wie frei die Gestalter der Filmreihe aus Camilleris umfangreichem Werk schöpfen, illustriert die kleine Tatsache, dass die diesem Film zugrunde liegenden Geschichten allesamt von Salvo Montalbano in den Anfangsjahren seiner Polizeikarriere erzählen [Lesen Sie hier meine Rezension des Sammelbandes »Morte in mare aperto e altre indagini del giovane Montalbano | Der ehrliche Dieb«.]. Als Filmversion wäre somit eigentlich eine neue Folge im Rahmen der Serie Il giovane Montalbano | Der junge Montalbano mit Michele Riondino in der Hauptrolle zu erwarten gewesen. Realisiert hat man den Film dann aber als Folge 30 der »normalen« Serie mit Luca Zingaretti als Salvo Montalbano. An dieser Stelle hat der commissario freilich längst die Sechzig überschritten.
• Informationen zu den Textgrundlagen des Films finden Sie in der Übersicht aller Fernsehfilme.
• Außerdem bietet Ihnen Bücher Rezensionen vollständige und stets aktualisierte Übersichten aller Fernsehfilme, aller Romane und aller Erzählungen über den commissario Montalbano.