La stoffa dei sogni
von Gianfranco Cabiddu
Eine gemischte Gruppe aus Schauspielern und Gangstern wird auf eine Gefängnisinsel verschlagen und muss dort Shakespeares »Der Sturm« aufführen.
Shakespeare auf der Insel der Esel
Die Insel Asinara ist eine Art Wurmfortsatz Sardiniens. Sie liegt nördlich des bedeutenden Fährhafens Porto Torres, und die Schiffe aus Genua, Marseille und Korsika gleiten in respektvollem Abstand vorbei. Seit 1997 ist sie Nationalpark, aber dünn besiedelt war sie schon immer – seit 1885 beherbergte sie lediglich ein Hochsicherheitsgefängnis. Seinetwegen (heute Museum), wegen der herrlichen Buchten und wegen der umfangreichen Population wilder Esel (darunter viele Albinos) werden Touristen in »Zügen« über das Eiland gekarrt.
Doch was für ein irrwitziges, bezauberndes, wunder-volles, farbkräftiges, poetisches, fantasievolles, tiefgründiges Schauspiel hat der sardische Filmregisseur Gianfranco Cabiddu (»Disamistade« [› Rezension], »Il figlio di Bakunin« [› Rezension]) hier angesiedelt! Es trägt sich irgendwann nach dem Krieg zu, hauptsächlich in dem sengend heißen kleinen Gefängnis und seiner menschenleeren Umgebung. Hier verrichten ein paar Aufseher ihren öden Dienst, und ihr Chef, ein gebildeter Herr, hat viel Zeit für Bücher und fürs Nachdenken. Außerdem wohnt im Direktorenhaus seine Tochter Miranda, auf der Schwelle zwischen gehorsamem Kind und trotzigem Teenager, zwischen Mädchen und junger Frau, die ihre Langeweile mit Baden im kristallklaren Wasser vertreibt und langsam bemerkt, was es mit Männern und Frauen auf sich haben könnte.
Die Handlung setzt ein, als vier verurteilte Camorra-Mitglieder, von zwei Wachleuten beaufsichtigt, zum Haftantritt erwartet werden. Doch auf der kleinen Fähre – an Bord auch eine vierköpfige reisende Theatertruppe – kommt es zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Kapitän erschossen wird. Im Sturm sinkt das Schiff, aber die Passagiere werden, wie auch die Requisitentruhe der Schauspieler, an Land gespült. Nachdem die Polizisten sie aufgegriffen haben, stellt sich dem Direktor De Caro die Frage, wen er in Gewahrsam nehmen und wen er freilassen muss, wer hier also Mafioso und wer Schauspieler ist. Nur zu Signor Oreste Campese, dem »Capocomico« , fasst er Vertrauen und erlegt ihm auf, mit allen Schiffbrüchigen gemeinsam binnen weniger Tage ein Stück einzuüben, damit er sie nach ihren Talenten beurteilen kann. Dazu wählt er Shakespeares Drama »Der Sturm« aus, das in vielerlei Hinsicht (offen und noch verborgen) zur Lage passt, aber auch einer der ganz harten Brocken der Theatergeschichte ist.
Nun obliegt es Oreste, das Stück auf der toten Betonfläche des Gefängnishofes zum Leben zu erwecken, wobei Boss Don Vincenzo (auf seine ungeschliffene Weise auch er ein Gentleman) sowohl ihn als auch seine kriminellen Gehilfen unter Druck setzt, im Interesse aller ihr Bestes zu geben. Der gescheite Capocomico ist nicht nur jeder Anforderung gewachsen, sondern erweist sich als genialer Theatermann. Schon seine kluge Rollenverteilung fängt geschickt die Charaktere der Schiffbrüchigen und ihre Spannungen untereinander auf, aber seine wahre Meisterschaft beweist er in seinen faszinierenden Anleitungen: Seinen Worten, seiner Aussprache, seiner Mimik, der großen und kleinen Gestik folgen wir wie hypnotisiert, wie es auch seine Lehrlinge, die neapolitanischen Camorristi tun, die sich, um nicht negativ aufzufallen, nach Kräften bemühen, ihn zu imitieren. Echtes spielerisches Talent weckt er bei seinem Töchterlein, die sich zu einem zarten, luftleichten Windgeist Ariel entfaltet. Im Übrigen kann Oreste auf keine anderen Mittel bauen als die, die dem elisabethanischen Barden in seinem »Globe« zur Verfügung standen (Kostüme, Schattenspiele, einfache Gegenstände, die schauerlich donnern, klappern und rasseln).
Natürlich hat Gianfranco Cabiddu den Titel seines Films von Prospero entliehen (»The Tempest«, act IV): »We are such stuff as dreams are made on; and our little life is rounded by a sleep.« (»Noi siamo della stessa stoffa di cui sono fatti i sogni, e nello spazio di un sogno è racchiusa la nostra piccola vita.« – »Wir sind vom Stoff, aus dem die Träume sind; und unser kleines Leben beginnt und schließt ein Schlaf.«). Außer von diesem Klassiker wurde er von dem Theaterstück »L’arte della commedia« (»Die Kunst der Komödie«, 1964) des bedeutenden Dramatikers Eduardo De Filippo (1900-1984) inspiriert, mit dem er als junger Mann zusammengearbeitet hatte. In seinem vielschichtigen Film korrespondieren und spiegeln einander auf feine Weise Realität und Fiktion, Komödie und Tragödie, Drehbuch und Shakespeares Drama, und durch alle Fährnisse hindurch bewahrt der Regisseur eine leichte Stimmung voller Ironie, wie auch Oreste weder die Hoffnung noch seine hintergründige Heiterkeit verliert. Um seinen unerfahrenen Mitspielern die Arbeit zu erleichtern, übersetzt er, wie von Don Vincenzo angeregt, den schweren Text in neapolitanischen Dialekt, dessen ungeahnte musikalische Kraft Cabiddu voll ausschöpft.
Man muss einräumen, dass die Verständlichkeit dieses Films nicht nur für Nicht-Muttersprachler im Detail leider eingeschränkt ist. Dem Handlungsgang kann man aber gut folgen, und der Zauber des Ganzen erschließt sich ohnehin durch die Filmsprache. Vielleicht ergeht es uns beim Zuschauen ein wenig wie Antioco, dem urtümlichen Hirten, der mutterseelenallein mit seinen Tieren auf der Insel lebt, wie seine Vorfahren schon seit Jahrtausenden gelebt und agiert haben mögen und der ein unverständliches Sardisch hervorsprudelt. Am Ende wird der Kulturlose (eine Caliban-Figur) Zeuge des Schauspiels und steht tief bewegt.
Nachdem der Film am 1. Dezember 2016 in italienischen Kinos gezeigt und im Jahr darauf beim »David di Donatello«, »Globo d’oro« und »Bobbio Film Festival« prämiert wurde, verschwand der Film wahrscheinlich im Archiv des Mitproduzenten und -rechteinhabers RAI Cinema und war nicht einmal als DVD zu erwerben. Erst 2021 konnte ich zufällig eine Ausstrahlung bei RAIuno aufnehmen, was diese Rezension ermöglichte.
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