Ybris
von Gavino Ledda
Zurück zu den Wurzeln
Eine Art Fortsetzung von »Padre padrone« [› Rezension], doch ist dieser Film weniger autobiografisch-naturalistisch, als dass er den Spuren sardischer Mythen nachgeht und sie mit dem griechischen Altertum und der Psychologie verknüpft. Offenkundig wollte der für die authentisch-schlichte (deswegen nicht minder erschütternde) Geschichte seiner Hirtenkindheit gefeierte Gavino Ledda nun etwas ›Anspruchsvolleres‹ vorlegen und sich als Autor, Gelehrter, Regisseur, Philosoph und Schauspieler (er spielt sich selbst) bewähren.
»Lingua di falce« (1977)
von Gavino Ledda
(*1938)
Der Handlungsrahmen ist einfach: Als Gavino Ledda vom Festland in seine Heimatstadt Siligo (Provinz Sassari) zurückkehrt, findet er sich nicht mehr zurecht; er wird von den Einheimischen nicht mehr wie einer der Ihren akzeptiert. Denn wer seiner Heimat den Rücken kehrt, verbannt sich selbst. Zwar hat er sich in der Fremde einen Hochschulabschluss erarbeitet, doch der entfremdet ihn nur von seinen Wurzeln und von sich selbst. Gavino zieht sich in eine primitive steinerne Schäferhütte (eine Art nuraghe) zurück.
Als Gavino an Krebs erkrankt, erscheinen ihm in seinen Delirien Kobolde (amuntadores) aus der sardischen Sagenwelt, dazu sein Freund Leonardo (in dem er Leonardo da Vinci erkennt) sowie griechische Göttinnen, u.a. Athene. Die Geister lassen ihn wissen, dass seine Krankheit eine Folge seiner Abwendung von den heimatlichen Traditionen ist. Unter Anleitung seines Mentors Leonardo ›da Vinci‹ gelingt es ihm, die Dämonen abzuwehren und sich selbst wiederzufinden.
Die »Hybris« des Filmtitels bezieht sich auf Gavinos anmaßende Herausforderung der höheren Mächte; am Ende fügen sie sich nicht seinem Stolz, sondern seiner wiedergefundenen (sardischen) Identität.
Der Film wurde vom öffentlich-rechtlichen Fernsehkanal Raitre produziert und 1986 in vier Folgen (insgesamt 184 Minuten) ausgestrahlt. (Die Kinoversion hatte nur 124 Minuten.) Allerdings schoss Ledda mit seinem verkopften, avantgardistischen Konzept weit über das hinaus, was er seinem Publikum zumuten konnte. Die Kritik warf ihm Selbstbeweihräucherung vor, während der Film als gekünstelt, überfrachtet, abgehoben empfunden wurde. Etliche Szenen wirken unfreiwillig komisch, etwa manch alberne Kostümierung oder wenn der Held allein mit der Kraft seiner Stimme Trockenmauern zum Einsturz bringt. Es fragt sich auch, ob Gavino Leddas Botschaft eine Absage an jegliche Moderne sein soll, wenn er am Ende fellbekleidet und sichelbewehrt einem Mähdrescher Einhalt gebietet und auf den Feldern Kultur sät (griechische Masken, klassische Musik).
Trotz aller Einwände ist der Film ein sehenswertes Experiment, dem es gelingt, in kraftvolle Bilder und Geräusche zu fassen, was sardische Kultur und Charakter ausmachen mag.