Ãœbersicht Filmserie Il Commissario Montalbano
von Andrea Camilleri
Rezension der Gesamtserie. Eine komplette, stets aktualisierte Ãœbersicht der Titel, Textgrundlagen und Besprechungen aller Filme finden Sie hier.
Sicilianità auf dem Bildschirm
Im Jahr 1999 strahlte das italienische StaatsÂfernÂsehen RAI die erste Folge der Camilleri-Verfilmungen unter dem Serientitel »Il Commissario Montalbano« aus. Bis Februar 2018 gingen 32 Filme über den BildÂschirm. (Hier finden Sie Details zu allen Filmen dieser Serie.)
Von Anfang an waren die Sendungen ein Hit. Alle Folgen erreichten herausragende EinÂschaltÂquoÂten: neun bis zehn Millionen Zuschauer (bei ca. 61 Mill. Einwohnern) (zum Vergleich: Die »Tatort«-Folgen von November 2011 bis November 2012 erreichten 7 bis 9,5 Millionen Zuschauer (bei ca. 82 Mill. EinÂwohÂnern), nur die Münsteraner Variante schaffte 11,4 Millionen.). 2012 wurde daraufhin sogar eine zweite Serie aufÂgeÂlegt: »Il giovane Montalbano«.
In der Hauptserie spielt der SchauÂspieler Luca ZinÂgaÂretÂti ganz ideal und difÂfeÂrenÂziert den ProÂtaÂgonisÂten, seine österÂreiÂchiÂsche KolleÂgin KathaÂrina Böhm gibt die DauerÂverÂlobte Livia aus LiguÂrien. Regie führte stets AlÂberÂto Sironi. (Für »Il gioÂvane MontalÂbano« brauchÂte Regisseur GianÂluca Maria TavaÂrelli jünÂgeÂres PerÂsoÂnal; man wählte MiÂcheÂle RionÂdino für die HauptÂrolle und Sarah FelÂberÂbaum als Livia.) So kongenial ZinÂgaÂretÂti den commissario zu verkörÂpern scheint – inzwischen dürfte jeder sein marÂkantes Gesicht vor Augen haben, wenn der Name Salvo Montalbano fällt –. sollte man doch wissen, dass Andrea Camilleri einen ganz anderen Charakter seines Helden im Sinn hatte und in den frühen Romanen beschrieb (z.B. mit Schnauzbart). In Camilleris GeburtsÂort Porto EmpeÂdocle wurde 2009 eine Statue aufgestellt, mit der der BildÂhauer Giuseppe Agnello Camilleris VorstelÂlungen von seinem ProÂtaÂgonisÂten nachÂempfunÂden haben soll.
Die Drehbücher aller Filme wurÂden in enger ZuÂsamÂmenÂarÂbeit mit Andrea Camilleri verÂfasst und orienÂtieÂren sich im AllÂgeÂmeinen sehr eng an den RoÂmanen; ganze DialogÂteile kann man soÂzuÂsaÂgen mitÂlesen. DaÂneben wurden aber auch neue NebenÂcharakÂtere entÂwickelt, anÂdere aus den liteÂrariÂschen VorÂlagen variÂiert sowie fast immer HandÂlungsÂmotive aus diÂverÂsen KurzÂgeÂschichÂten inÂteÂgriert.
Vielleicht die weitestgehende VerÂänderung betrifft die SchauÂplätÂze. Camilleri legt Wert darauf, dass alle Orte nur in seiner FanÂtaÂsie exisÂtieÂren; dennoch kann man die Romane wohl an der SüdÂküste zwischen Scià cca (Fiacca?), AgriÂgento (MonteÂlusa?) und Porto EmÂpeÂdocle (Vigà ta?) verÂorÂten. Die Filme wurÂden hinÂgegen im Südosten SiziÂliens gedreht – in den prachtÂvolÂlen BaÂrockÂstädten Ragusa, Mòdica, Scicli und Noto sowie am Meer bei Punta Secca (Da wurden die AußenÂaufÂnahÂmen vor MontalÂbanos Haus am Strand gedreht.), Sampieri (mit der Fornace Penna, der Ruine einer ZieÂgeÂlei von ca. 1910, einÂdrucksÂvoller DrehÂort z.B. in »La forma dell'acqua«) und Marzamemi. Sehen Sie sich nur den senÂsatioÂnelÂlen HubÂschrauÂberÂflug des VorÂspanns der HauptÂserie an, und Sie werden verÂstehen ...
Ein Gutteil des Vergnügens, das wir – und sicher auch viele ItaÂlieÂner – beim BeÂtrachÂten der Filme verÂspüÂren, ist den geÂruhÂsamen KameraÂeinÂstelÂlunÂgen zu verÂdanÂken, die die piazze, paÂlazzi, chiese, vicoli der StädtÂchen mit ihren TrepÂpenÂfluchÂten, BalÂkoÂnen, TerÂrasÂsen und AusÂbliÂcken immer wieder geÂschmackÂvoll in Szene setÂzen. Oft muss der ComÂmisÂsario auch auf dem Land reÂcherÂchieÂren, und dann geht es über holÂprige strade bianche (StaubÂstraÂßen) zu ärmÂlichen HirÂtenÂhäusÂchen und SchafÂstälÂlen oder auch zu alten, fein ausÂgeÂstatÂteÂten, bisÂweiÂlen schon etwas herÂunÂterÂgeÂkomÂmeÂnen GutsÂhäuÂsern, wo sich uns fasÂziÂnieÂrenÂde EinÂblicke in weitÂläuÂfige Salons, KelÂlerÂgeÂwölÂbe und Parks erÂöffÂnen. Am edelÂsten wohnt (wie nicht anÂders zu erÂwarÂten) der alte Mafia-ClanÂchef Don BalÂduccio SiÂnaÂgra: Er reÂsiÂdiert im opuÂlenÂten CasÂtello di DonnaÂfugata, das wir z.B. in »Par condicio« beÂwunÂdern könÂnen. Das rieÂsige Schloss mit Park und IrrÂgarten liegt in der Nähe von RaÂgusa und soll GiuÂseppe Tomasi di LamÂpeÂdusa zu seinem RoÂman »Der LeoÂpard« anÂgeÂregt haben; auch der wurde teilÂweise hier verÂfilmt.
Inzwischen hat sich ein clever orÂgaÂniÂsierÂter TouÂrisÂmus zu den DrehÂorten entÂwickelt – Indiz für die unÂgeÂbroÂchene PopuÂlariÂtät der Serie. In den geÂnannÂten Orten finÂdet man an den beÂtrefÂfenÂden StelÂlen überÂall Tafeln, oft in Form von StehÂpulten, mit ein paar Fotos der hier geÂdrehÂten Szene sowie den zuÂgeÂhöÂriÂgen DiaÂlogen – großÂartig! Dazu sprießen risÂtoÂranti aus dem BoÂden, die vorÂgeben, la vera tratÂtoÂria di MonÂtalÂbano oder ähnÂliches zu sein ...
Die attraktiven Schauplätze sind nicht nur oberÂflächÂliches AmÂbiente. Man spürt vielÂmehr, dass sie tatÂsächÂlich die HeiÂmat der CharakÂtere sind, die, tief in ihr verÂwurÂzelt, sie schätÂzen und lieÂben. Vom einÂfachsÂten HirÂten über die KleinÂbürÂger bis zum ProÂtaÂgoÂnisÂten spreÂchen alle – mehr oder weniÂger inÂtenÂsiv – den einÂheiÂmiÂschen DiaÂlekt, den schon CamilÂleri in seiÂnen RomaÂnen geÂnüssÂlich zeleÂbriert und der in den FilÂmen mit alÂlen ReÂgisÂtern in Szene geÂsetzt wird: gestiÂkulieÂrende Hände, ausÂdrucksÂvolle Mimik, ausÂladenÂde KörÂperÂsprache, dazu ein meloÂdiöÂser SingÂsang und deutÂliche AkÂzenÂtuÂierung sorÂgen für großes TheaÂter, wenn ein Streit ausÂgeÂfochÂten, GeÂschäfÂte abÂgeÂschlosÂsen, FreundÂschaften erÂneuert werÂden. Hohe HerrÂschafÂten dagegen – geÂlackte AmtsÂperÂsonen zum BeiÂspiel – spreÂchen akÂzentÂfrei, daÂfür oft phraÂsenÂhaft. Ãœber den Dialekt entÂscheiÂdet sich, wer »dazuÂgeÂhört« oder ausÂgeÂschlosÂsen bleibt. (Deutsche Krimi-ProÂdukÂtionen hingegen sind sprachlich weitgehend genormt. Sie unterscheiden sich zwar landschaftlich und archiÂtekÂtonisch, aber die Personen sind in ihrer Gegend so gut wie nie wirklich »beheimatet«. In dieser Hinsicht sind die Filme flach und austauschbar.)
Nicht unähnlich verhält es sich mit den Plots. Weder Camilleris Romane noch die Filme sind Thriller, wie wir sie massenhaft aus Skandinavien oder dem englischen Sprachraum einkaufen. Brutalität tritt niemals so in den Vordergrund wie dort: Leichenschau gibt es – außer in »Tocco d'artista« – nur in flüchtigen EinÂstelÂlunÂgen, z.B. in »La forma dell'acqua«. Nein, die Kriminalfälle sind bodenständig, realistisch, im Alltag anÂgeÂsieÂdelt. Die Motive der Gesetzesbrecher sind zumeist schlicht menschlich: Sie brauchen Geld, sind eiferÂsüchÂtig, gierig, wollen Rache üben, manche wollen ihre eigene »Gerechtigkeit« erzwingen. DemÂentÂspreÂchend können die Verbrechen gelöst werden, weil den Kriminellen kleine Fehler unterlaufen, weil die NachÂbarn offene Augen und Ohren haben, weil Salvo Montalbano ein fähiger Ermittler ist, der scharf beobachten und logisch denken kann und der sich gesunden Menschenverstand und gute Menschenkenntnis erworben hat. Ãœberzüchtete Psychopathen, Waffenfreaks, Hitech, Genanalysen, Hubschrauber, SonÂderÂeinÂsatzÂkomÂmanÂdos, rasante Verfolgungsjagden – all so etwas gibt es in Camilleris Sizilien nicht. Spannung entsteht durch Mitdenken über offene Fragen, und reichlich Abwechslung bringen unerwartete Wendungen, oriÂgiÂnelÂle Figuren, tolle Schauplätze, witzige Dialoge.
Nicht dass die Montalbano-Welt heile wäre. Neben individuell veranlasstem Verbrechen (Diebstahl, ErÂpresÂsung, Mord) gibt es auch dort organisierte und systemische Kriminalität (Mafia, Drogen-, MenÂschenÂhanÂdel, Ausbeutung, Auswüchse der Globalisierung). Aber die Sicht auf die Welt ist nicht so theoretisch-abstrakt konzipiert wie in manchem Katastrophen beschwörenden Polit-Thriller. Denn so sehr manche »Tatorte« zu packen vermögen, wirken sie doch oft programmatisch und aufklärerisch-kritisch konstruiert: Ihre düstere Realität sind verwahrloste Wohnblocks, ordinärer Sex, grausame Brutalität, erschütternde MitÂleidÂlosigÂkeit, und geradezu stereotyp stecken die Polizisten in hoffnungslosen Ehekrisen und üblen KorÂrupÂtionsÂafÂfäÂren bis in höchste Kreise – als wäre es politically incorrect, auch nur einen Schimmer von »heiler Welt« aufscheinen zu lassen.
Bei Camilleri aber steht die Menschlichkeit im Vordergrund; die Charaktere – auf beiden Seiten des GeÂsetÂzes! – sollen keine Gruppen, Klassen, Tendenzen repräsentieren, sondern sind vielschichtige InÂdiÂviÂduen. Für die meisten kann man trotz ihrer Fehler Mitgefühl entwickeln. Der warmherzige, menÂschenÂfreundÂliche Zugang kennzeichnet Camilleris Gesamtwerk und lässt geruhsame, unaufgeregte Geschichten entÂsteÂhen. Sie dozieren und belehren nicht – sie sind einfach nur das Leben. Vielleicht liegt darin das wahre GeÂheimÂnis des Erfolgs der Montalbano-Romane und ihrer Verfilmungen: Der Commissario und seine MitÂstreiÂter sind wie alte Bekannte – man schätzt ihre Vorzüge, akzeptiert ihre Macken, wundert sich über unÂgeÂwöhnÂliche Ausfälle, verfolgt interessiert, wie sie sich verändern. Aber man kann sich immer auf sie verÂlassen.
Die BBC hat zumindest die ersten 22 Folgen von »Il Commissario Montalbano« gekauft und seit 2008 teils synchronisiert, teils im Original mit Untertiteln ausgestrahlt – ähnlich in Australien und Frankreich (France 3). Bei der BerÂliÂnaÂle 2012 kam Teil 1 von »Il giovane Montalbano« unter die Finalisten der Kategorie »Prix Europa 2012 – Beste Fernsehproduktion«. Für das deutsche Fernsehpublikum aber ist Montalbano wohl nicht gut genug. Das ZDF hat lediglich die ersten vier Folgen der Serie gekauft, synchronisiert und – kaum beachtet – zu nächtlicher Stunde ausgestrahlt. Die Kritiken beklagten beispielsweise, dass die Ãœbersetzung steif sei. Camilleri ohne sprachlichen Esprit, ohne das Spiel mit dem Dialekt? Damit war das deutsch-öffentlich-rechtÂliche Kapitel leider beendet.
Dennoch muss es auch im deutschen Sprachraum eine bedeutende Fangemeinde geben, denn die MontÂalÂbaÂno-Kriminalromane von Andrea Camilleri erscheinen einer nach dem anderen in deutschÂspraÂchiÂgen AusÂgaÂben, und es gibt sogar wunderbare, aufwändige »Sekundärliteratur« wie »Andrea Camilleris sizilianische Küche: Die kulinarischen Leidenschaften des Commissario Montalbano« und »Auf Camilleris Spuren durch Sizilien: Die Lieblingsplätze des Commissario Montalbano«.
Der österreichische Privatsender Servus-TV hat die Marktlücke erkannt und die Filme synchronisieren lasÂsen. Die Folgen 1 bis 18 von »Il Commissario Montalbano« wurden zwischen April und August 2011 auf Deutsch erstausgestrahlt, im Juli 2013 folgten die Teile 19 bis 22. Und Servus-TV scheint am Ball zu bleiÂben: Man hat auch die ganze »Il giovane Montalbano«-Serie synchronisiert (Erstsendung ab 30.7.2013). Alle deutschsprachigen Filme werden auch als DVD-Boxen vermarktet; eine Ãœbersicht finden Sie bei Bücher Rezensionen hier (»Il Commissario Montalbano«) bzw. hier (»Il giovane Montalbano«).
© Alle Fotos sind Privataufnahmen der Verfasserin.
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