»Salvo amato ...« »Livia mia ...«
von Andrea Camilleri
Eine liebenswürdige junge Frau aus Livias Freundeskreis wird brutal ermordet. Ein Salvo wohlbekanntes Schlitzohr wird bei einem Einbruch erwischt, der keiner war. Alles drin in diesem Film, was man an Camilleri schätzt.
Nur Gutes aus dem Camilleri-Baukasten
Livia ist erschüttert, als eine liebe Freundin von ihr daheim im ligurischen Boccadasse einem brutalen Mord zum Opfer fällt. Sie schreibt ihrem Verlobten im fernen Vigàta, was sie von den Ermittlern erfahren hat, und Salvo fühlt sich herausgefordert, zur Aufklärung des Falles beizutragen. Der Detailreichtum ihres Briefes gibt ihm gute Anhaltspunkte, er antwortet präzise und scharfsinnig, und so geht der Briefwechsel weiter, bis der commissario Tathergang, Motiv und Tätergruppe so zutreffend umrissen hat, dass sein norditalienischer Kollege den Mörder nur noch zu verhaften braucht.
sobald sie erhältlich ist.
Die hiermit umrissene Kriminalerzählung besteht, wie schon der Titel »›Salvo amato …‹ ›Livia mia …‹« (»›Liebster Salvo …‹ ›Meine liebe Livia …‹«) nahelegt, nur aus ein paar Briefen. Jegliche äußere Handlung fehlt, denn Montalbano löst den Fall allein in seinem Kopf, lesend, nachdenkend, schlussfolgernd und schreibend.
Ausgerechnet dieser ›Briefroman‹ en miniature soll sich für einen massentauglichen Fernsehfilm eignen? Man hat ihn dazu kräftig umgekrempelt wie kaum eine andere Textvorlage zuvor. Insbesondere hat man die Briefgestalt getilgt, die örtliche Trennung der beiden Briefeschreiber aufgehoben, den Schauplatz aus Ligurien nach Sizilien verlegt, ein paar zusätzliche Figuren und Winkelzüge hinzuerfunden, so dass von der originellen Erzählung nichts als der elementarste Handlungskern des Mordfalls erhalten blieb. Die Radikalkur hat auch positive Folgen: Sie können die Erzählung ruhig vorab lesen. Dann kennen Sie zwar Tathergang, Motiv und Täter, doch hält der Film noch etliche kurzweilige Überraschungen bereit.
Zur Handlung: Das Stadtarchiv von Vigàta ist für den Sommer geschlossen. Ein paar Handwerker, die Renovierungsarbeiten ausführen, finden in einem Flur die brutal zugerichtete Leiche von Agata Cosentino, 27, Mitarbeiterin dieser Behörde. Ein Sexualdelikt liegt nicht vor, und niemand wüsste einen Grund, warum jemand diese tüchtige, überall beliebte Person (»tutta la gioia nostra«) hätte töten wollen. Vom Wesen her zurückhaltend, verschenkte sie Vertrauen und Freundschaft nur sparsam. Zu ihrem engeren Kreis durfte sich auch Livia zählen, seit sie ihr während eines kurzen Arbeitsaufenthaltes in Genua geholfen hatte. Von der schrecklichen Nachricht erschüttert, fliegt Livia sofort nach Sizilien, um Agatas Eltern zur Seite zu stehen.
Commissario Montalbano ermittelt in Agatas kleinem Bekanntenkreis, bei ihren Arbeitskollegen sowie den Bauarbeitern. Das gestaltet sich wie gewohnt: Der Chef rätselt und hypothetisiert, Mimì Augello und Fazio ziehen los und sammeln Fakten, und wenn’s spannend wird, fahren alle drei im uralten Fiat los, um wichtige Zeugen zu treffen oder Schauplätze zu untersuchen. Dabei erfahren sie allerlei Geheimnisse, von denen in der Textvorlage keine Spur zu finden ist, die die Handlung aber schön würzen.
Wie in vielen Montalbano-Filmen ist mit dem ernsten Mordfall ein kleinerer, amüsanterer Fall verwoben, der auf einer anderen Erzählung beruht – hier ist das »Il vecchio ladro« (»Der alte Einbrecher«). Von deren origineller Handlung wurde auch nur der Kern übernommen – der Rahmen wurde dem Universum der Filmserie angepasst. Jetzt ist der Protagonist kein netter alter Dieb aus Not und Gewohnheit mehr, sondern der junge unverbesserliche Kleinkriminelle Pasquale. Der erziehungsresistente Sohn von Adelina, Salvos begnadeter Köchin und rabiater Haushälterin, ist den Zuschauern seit den Anfängen der Serie als nicht unsympathisch, bisweilen sogar hilfreich bekannt.
Obwohl die beiden Fälle unabhängig voneinander sind und sich in Ton und Thematik unterscheiden, stehen sie doch bis zum Schluss in einer fein unterhaltenden Wechselwirkung aus Anspannung und befreiender Komik. Herrscht im einen Trauer und Fassungslosigkeit vor, bringt der andere Wortwitz und kauzige Figuren; fördert der eine grausame Wahrheiten ans Licht, regieren im anderen Cleverness, Sturheit und Widerborstigkeit.
Wie immer spielt das Städtchen Vigàta als Schauplatz eine glänzende Rolle. Optisch eine Montage aus den Schmuckstücken mehrerer Drehorte im Südosten Siziliens (Ragusa, Mòdica, Scicli, Noto, Sciàcca, Puntasecca), hat der fiktionale Ort über die Jahre eine zeitlose eigene Identität angenommen. Straßen und Plätze sind in der Regel menschenleer, die Atmosphäre wird somit allein von Camilleris Charakteren, der reichen Kultur der Stadtbilder und dem Sonnenschein geprägt. Aber Vigàta ist alles andere als ein Museum – die moderne Technik (Digitalisierung, Smartphones, Überwachungskameras …) und sehr aktuelle Themen (Flüchtlinge, Wirtschaft, Europa …) bestimmen das Leben wie anderswo auch. Dennoch vermittelt die Stadt, wo Salvo Montalbano arbeitet, wohnt, begeistert schlemmt und im Meer badet, dem Zuschauer ein Gefühl althergebrachter heiterer Lebenslust. Streitereien und Liebe, Frustrationen und Genüsse, Verbrechen und Menschlichkeit, Trauer und Heiterkeit, Lachen und Weinen liegen nah beieinander – in den Erzählungen, Romanen und Verfilmungen wie im richtigen Leben. Camilleris Figuren wissen die ewigen Abläufe gelassen zu nehmen, und der Schauspieler Luca Zingaretti verkörpert die widersprüchlichen Nuancen des tiefgründigen commissario in idealer Weise.
Gegenüber den privaten Aspekten treten soziale in diesem Film in den Hintergrund, ohne ausgeblendet zu werden. Camilleri war stets ein gesellschaftlich engagierter Künstler, doch nie Ideologe. Er zeigt Kriminalität, Fehlverhalten, Missstände auf, betrachtet sie aber als Phänomene der komplexen menschlichen Natur, die es in erster Linie zu erfassen und (als Schriftsteller) wahrhaft und vorurteilsfrei darzustellen gilt. Diesem Anliegen dient auch die durchgängige Ironie des Stils, der manche Härte zu mildern vermag. Am überzeugendsten sind in dieser Hinsicht die frühen Erzählungen, die Camilleri und seinen commissario Montalbano so beliebt und berühmt gemacht haben, während sich manche späten Romane thematisch überheben. In dieser Hinsicht ist der Film ein sehr erfreulicher Kompromiss.
Bemerkenswert:
• Die Produktion dieser Episode musste mit einigen Verlusten fertigwerden. Marcello Perracchio, der wunderbare Darsteller des grantigen Gerichtsarztes dottor Pasquano war bereits am 28. Juli 2017 verstorben. Die Figur wurde erst jetzt durch einen ganz anderen Typ ersetzt. Am 17. Juli 2019 – mitten in den Dreharbeiten – starb Andrea Camilleri, der Autor, und kaum drei Wochen später Alberto Sironi, der Regisseur, der sämtlichen Verfilmungen ihre unverwechselbare Gestalt gegeben hatte. In dieser Lage übernahm Hauptdarsteller Luca Zingaretti die Regie für die beiden Episoden der 14. Staffel.
• Einem Wunsch Camilleris folgend, wurde dieser Film vor der Ausstrahlung im Fernsehen zuerst im Kino gezeigt – am 24., 25. und 26. Februar. Der Erlös wurde zwei Wohltätigkeitsinstitutionen gespendet.
• Informationen zu den Textgrundlagen des Films finden Sie in der Übersicht aller Fernsehfilme.
• Außerdem bietet Ihnen Bücher Rezensionen vollständige und stets aktualisierte Übersichten aller Fernsehfilme, aller Romane und aller Erzählungen über den commissario Montalbano.