Ein Mord, der nicht sein darf
Zu ihrer Mutter hat die dreizehnjährige Lara ein distanziertes Verhältnis. Anna Mudroch ist Journalistin bei einer Frauenzeitung, meistens unterwegs und eine »Vorzeigefrau« des real existierenden Sozialismus der CSSR im Jahre 1964. Sie ist nicht nur überzeugte Kommunistin, sondern will auch Karriere machen.
Papa Teodor ist anders, gesetzter. Er ist Polizist und arbeitet bei den Staatsbahnen. Da schiebt er eine ruhige Kugel, denn er muss sich nur um ein paar kleinere Diebstähle kümmern. Dass es keine gesellschaftsschädlichere Kriminalität gibt, rechnet er zu den Segnungen des Sozialismus, der auf dem besten Weg ist, den perfekten Menschen zu erschaffen, befreit von allem »Materialistischen, Kriminellen und Rückschrittlichen, zu dem die Last der Tradition und Religion gehörte.« Schon seit zwanzig Jahren ist nichts wirklich Aufsehenerregendes mehr vorgefallen.
Am 6. Dezember 1964 entdeckt man im Abort eines Waggons eine abgestellte herrenlose Jutetasche, darin ein abgetrennter Kopf. Von dem zugehörigen Torso ist weit und breit keine Spur zu finden. Teo Mudroch übernimmt den Fall, kniet sich richtig rein und klärt ihn auf. Jetzt macht er Karriere, wird für seinen Erfolg mit Orden behängt und später zum Landespolizeipräsidenten befördert.
Die Mörderin, die er schnell dingfest gemacht hatte, war eine psychisch gestörte Mutter von sieben Kindern. Den Vater ihrer drei Erstgeborenen hatte sie früher schon erschlagen; den der vier jüngsten Kinder hatte sie im Winter getötet, die Körperteile in einem Brotofen verbrannt und dann die Asche auf dem Zuwege des Hauses verteilt, damit niemand ausrutscht. Warum hat sie sich nicht einfach scheiden lassen? So eine Schande wollte sie weder sich selber noch ihren Kindern zumuten …
Der bestialische Mord hat sich wirklich zugetragen. Irena Èubírková wurde des Doppelmordes in besonders grausamer Tatabsicht überführt und war Ende September 1966 die erste Frau, an der in der Tschechoslowakei nach 1945 wegen einer kriminellen Tat die Todesstrafe vollzogen wurde. (Davor und danach wurden, wie die Autorin betont, noch viele andere Frauen hingerichtet – aus politischen Gründen.) Der Schriftstellerin Zdenka Becker dient der Fall als historische Vorlage für ihren Roman »Der größte Fall meines Vaters«.
Inzwischen ist Teodor Mudroch alt, an den Rollstuhl gefesselt und pflegebedürftig. Bald feiert er seinen neunzigsten Geburtstag. Seine Tochter Lara, 60, kümmert sich rührend um ihn. Unter der Woche hat er eine Pflegerin, aber der Samstag ist ihr gemeinsamer Tag: baden, frühstücken, anziehen, durch den Ort fahren, bei der Eisdiele einkehren und später an Annas Grab vorbeischauen. Lara ist Schriftstellerin, und sie soll dem Vater zuliebe ein Buch schreiben über den Fall, der seinem Leben eine Wende gab, ihn motivierte, ihm Ansehen bescherte.
Als er Einblick in ihr Manuskript nimmt, ist er nicht glücklich über alles, was er da liest. Denn es kommen auch andere Phasen seines Lebens zum Vorschein. Als er noch als kleiner Polizist bei der Bahn arbeitete, sorgte er für seine Familie. Waren aus aufgebrochenen Waggons waren wertlos und wurden von der Versicherung bezahlt; die Entsorgung oblag der Polizei. So fanden Kleidung, Stoffe, Bananen, Ananas und manches andere einen Weg ins Haus Mudroch.
Der verdienstvolle Polizeipräsident ein Krimineller, ein Dieb? Das soll doch bitte nicht an die Öffentlichkeit gelangen; ob Lara den Roman nicht umschreiben könne? Es gilt, seinen tadellosen Ruf zu bewahren! »Ein braver Vogel kackt nicht in sein eigenes Nest.«
Zdenka Becker hat einen wunderbaren, warmherzigen Roman geschrieben. Um den skurrilen Mordfall, der in seiner lapidaren Schilderung noch gruseliger erscheint, als er ohnehin war, webt sie die liebevolle Vater-Tochter-Beziehung und das Ringen um die familiäre Vergangenheit. Die historisch-politischen Bedingungen des Schauplatzes spielen dabei eine wichtige Rolle, denn alles Geschehen ist in sie eingebettet, wird von ihnen beeinflusst. Manche halten die Fahne hoch: Die Tschechoslowakei ist ein sozialistisch fortschrittliches Land, denn »jeder arbeitet, soviel er kann, jeder bekommt das, was er braucht.« Diese dem Volk verordnete und von vielen verinnerlichte Sicht konterkariert die Autorin mit etlichen Seitenhieben auf die angeblichen Errungenschaften des Sozialismus, das Kollektiv der Gleichberechtigten, in dem manche »gleichberechtigter« waren.
Bei der Doppelmörderin ist die sozialistische Erziehung offensichtlich katastrophal missglückt – eine Schlappe für das System. Was Teodor Mudroch ermittelt und was die Täterin ihm gesteht, muss deshalb geheim bleiben. Lara aber, damals gerade in der Pubertät, teilt mit ihrer Freundin, was sie heimlich in ihres Vaters Aufzeichnungen und in Kriminal-Fachzeitschriften liest; alleine kann sie es nicht verarbeiten. Die Abbildungen grausamer Gewaltakte und Themen wie »der grundlegende Unterschied zwischen Männern und Frauen, die in einer Lebensbeziehung ihren Partner töten«, ziehen sie an und verunsichern sie zugleich. Haben sich ihre Eltern nicht auch auseinandergelebt? Als Vater kürzlich einen Leuchter aufhängte und Mutter die Sicherung ausschalten sollte, gab es plötzlich einen Stromschlag, der Vater zu Boden streckte. Wollte Mutter auf eine besonders raffinierte Weise Vater töten? In dieser Zeit entwickelt Lara ein intensives Vertrauensverhältnis zu ihrem Vater, das ihn bis in sein hohes Alter begleitet.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2013 aufgenommen.