Faustini begibt sich in Reparatur
"Herr Faustini, Sie sind ein sensibler Mensch, und das ist eine besondere Gabe." So diagnostiziert Frau Angela Nussbächle nach vier Therapiesitzungen das Befinden ihres Patienten. Faustini hatte das dringende Bedürfnis, sich in "Reparatur" zu begeben, denn er "hat so ein Gefühl, als hätte er ein Gefühl". "Mir ist nicht klar, wen ich meine, wenn ich Ich sage" (S. 19). Er empfindet das Leben als indirekt und ist meistens zu zweit: "einer, der etwas tut, und der andere, der bemerkt, dass einer etwas tut" (S. 21). Also kann er die Nachfrage der Ärztin, ob er sich einsam fühle, guten Gewissens verneinen. Schließlich entlässt sie ihn, auch, weil sie selbst in Urlaub fährt, mit dem dienlichen Therapie-Hinweis, er könne sich nur selber reparieren. Das könne so aussehen, dass er sich selber erobere, seinen Mittelpunkt finde, "an dem alles zusammenkommt" (S. 23).
Faustini nimmt sein Leben in die Hand und sucht mit dem Finger auf der Europakarte seinen ersten Zielort: Edenkoben. Für Frau Robatscher von der österreichischen Bundesbahn (Sie hatte ihm schon einmal eine Verbindung über die Via Mala ins Tessin vermittelt) buchstabiert er das Reiseziel auf für sie unverständliche Weise: "E wie einerlei ist keinerlei, d wie das wäre doch gelacht ...".
So sitzt er bald im ICE und empfindet Zeit in neuen Dimensionen. Als Langsamkeitsspezialist erlebt er das Dahinrasen des Zuges als etwas Besonderes. Er philosophiert über ein Leben mit einer Netzkarte, in der die Zeit "ordnungsgemäß nach Fahrplan abrollen" würde. Wo aber "würden die Augenblicke bleiben" (S. 33)?
Auf seiner Reise zum sich zusammenfügenden Mittelpunkt macht Faustini Bekanntschaft mit Emil, dem Mann mit dem kleinen, kurzen Jäckchen, der im Supermarkt nichts zu essen findet, mit einem Ehepaar, das gegen ein Großbauprojekt bis nach Strassburg prozessieren wird, mit einer Frau mit dem Zaubergang, mit einem holländischen Ehepaar, das sich zur Goldhochzeit eine Rheinschifffahrt gönnt und Faustini als abendlichen Tänzer für die Braut einlädt ...
"Die Augenblicke des Herrn Faustini" ist ein ungewöhnlicher und anspruchsvoller Roman – und ein Designerstück. Schon das surrealistische Cover (Magrittes Mann mit der Melone) suggeriert, dass Faustinis Begegnungen mit verschiedenen Menschen an verschiedenen Orten nicht einfach Normalität widerspiegeln, sondern mit der Realität spielen und ungesehene Perspektiven aufbrechen. Der Autor – Jahrgang 1961, Studium der Philosophie und Germanistik, Promotion über Hölderlin, Arbeit an den Universitäten Wien und Tokio, heute freier Schriftsteller in Bregenz – lässt den Leser spüren, mit welcher Freude er sich gerade auf dieser literarischen Spielwiese austobt. Die philosophierend-surreale Aufbereitung von Faustinis Lebensaugenblicken ist eine faszinierende, perfekte Installation – konstruiert, aber amüsant, ironisch und flüssig lesbar.