Gute Substanz, frisch gestrichen
Jack versteht kaum, was das bedeuten soll: »Der Wein, den der mir gegeben hat, das war gar keiner.« Die wenigen Worte herauszupressen war Eck Adamson schwer genug gefallen. Dann ging es zu Ende mit ihm. Gerade noch rechtzeitig hatte er nach Jack verlangt, und deswegen war der extra zur Unfallstation gekommen.
Jack Laidlaw ist Detective Inspector beim Crime Squad, aber kein Bürohengst. Er muss die Stadt (Glasgow in den Siebziger Jahren), die Menschen und ihre Probleme durch eine Art »Osmose« in sich aufnehmen. Die Bekanntschaft mit Eck war eine seiner vielen Kapillaren.
Eck, der eigentlich Alexander hieß, war ein obdachloser Alkoholiker ohne Angehörige, ohne Freunde, einer der »urbanen Beduinen«, die im Sommer auf »eingefahrenen Handelswegen« durch Glasgow vagabundieren und im Winter in Absteigen unterkriechen. Gelegentlich steckte er Jack mehr oder weniger nützliche Informationen zu und betrachtete den Polizisten daher vielleicht als eine Art Freund – »möglich, dass er keinen besseren hatte«. Wer mochte sich wohl die Mühe gemacht haben, eine Weinflasche mit Gift zu versetzen, um dieses trostlose Leben zu beenden, und warum?
Für Jack Laidlaw macht es keinen Unterschied, ob ein Verbrechensopfer aus dem Establishment stammt oder aus dem gesellschaftlichen Niemandsland. Er wird diesen Mordfall konsequent bis zur Obsession verfolgen, bis er ihn restlos aufgeklärt hat. Sein Mitarbeiter, Detective Constable Brian Harkness, wird ihn unterstützen, auch wenn er Jacks Berufethos ziemlich überzogen findet. Aber schließlich kann man Jacks Enthusiasmus »ebenso wenig ignorieren wie einen singenden Aufmarsch der Heilsarmee«. Am Ende des Tages akzeptiert Brian die unberechenbaren Launen, beiläufigen Kommentare und wahnwitzigen Ideen seines Chefs, ja schätzt sie sogar.
Viele Anhaltspunkte finden die Polizisten nicht unter Ecks wenigen Hinterlassenschaften. Auf einem schmuddeligen Zettel hat jemand – sicher nicht Eck selber – mit säuberlicher Handschrift ein paar Zeilen philosophischer Hausmannskost über Gesellschaftsmoral, Tugendhaftigkeit und Idealismus festgehalten, darunter zwei Namen (Lynsey Farren, Paddy Collins), der Name eines Pubs (The Crib), eine Adresse im Upperclass-Viertel Pollokshields und eine siebenstellige Ziffernfolge.
Die spärlichen Hinweise führen die beiden Ermittler ins Zentrum von Glasgows Unterwelt, gerade frisch aufgemischt von zwei miteinander rivalisierenden Gangs. Die treibende Kraft im Hintergrund ist ein junger Mann namens Tony Veitch: großgeworden in Pollokshields, »wo das Geld auf Bäumen wächst«, Erbe des mütterlichen Vermögens, überworfen mit dem dominanten Vater, bis vor kurzem als Student eingeschrieben, warf er unmittelbar vor den Abschlussprüfungen die Brocken hin und verschwand spurlos.
Was steckt hinter Tonys Verschwinden? Warum ist die gesamte Unterwelt hinter ihm her?
Der Kriminalroman »The Papers of Tony Veitch« ist der zweite Teil einer Trilogie um den engagierten Detective Inspector Jack Laidlaw (siehe Bibliographie am Ende), mit der der Autor, Drehbuchschreiber und Lyriker William McIlvanney Tartan Noir, die schottische Variante des Noir-Genres, begründete. Die Protagonisten dieser seit den Neunzigern immens populären Krimi-Spezies unterscheiden sich von ihren Vorfahren, indem sie eher unsympathisch erscheinen, weil unfreundlich, lasterhaft, hinterhältig und dergleichen. Ihre persönlichen Krisen bilden einen gleichwertigen Handlungsstrang neben dem Ermittlungsfortschritt. Zusammen mit den oft knallharten Beschreibungen der Gewalttaten und ihrer Folgen vermitteln diese Romane eine zynische, pessimistische Weltsicht. Tartan Noir (repräsentiert durch Tony Black [› Rezension 1, Rezension 2], Christopher Brookmyre [› Rezension], Stuart MacBride, Val McDermid [› Rezension], Ian Rankin, Louise Welsh u.a.) ist gern in den sozialen Brennpunkten Glasgows und anderer schottischer Städte angesiedelt. McIlvanney, der auch als Lyriker Erfolge feierte, fügt eine poetische Komponente, einen bildstarken Stil hinzu; man hat den Autor gar mit Albert Camus verglichen.
In Großbritannien wurde die Trilogie 2013/2014 wiederentdeckt und neu aufgelegt. Mag sein, dass dabei auch McIlvanneys vielbeachtetes politisches Engagement für ein unabhängiges Schottland eine Rolle gespielt hat. Im September 2014 (da scheiterte ganz knapp das schottische Referendum) brachte der Antje Kunstmann Verlag »Laidlaw«, den Eingangsband der Trilogie, in neuer Übersetzung heraus, im Februar 2015 folgte »Die Suche nach Tony Veitch« – und erstürmte bereits im März Platz 1 der KrimiZEIT-Bestenliste von ZEIT online und NordwestRadio. Was mag den überraschenden Erfolg nach vier Jahrzehnten verursacht haben, wo doch die ersten Ausgaben in deutscher Sprache (1979 bei rororo thriller, 1999 bei DuMont Noir) nur geringe Aufmerksamkeit erregt hatten?
Großen Verdienst hat gewiss Conny Löschs frische neue Übersetzung, die McIlvanneys Stil besser zur Geltung bringt und dem Krimi verjüngte Lebensgeister eingehaucht hat. Wer Spaß an originellen Vergleichen hat, wird immer wieder auf irrwitzige »wie«-Verknüpfungen stoßen: »Sie war eine Blondine, Ende zwanzig und so dezent wie eine Trompetenfanfare.« – Auftritt eines jungen Mannes, »pfeifend wie ein Busch voller Amseln, an der Spitze einer unsichtbaren Parade.« – »Gedanken zogen kurz an ihm vorbei wie die Waggons eines Zuges, den er gerade verpasst hatte.«
Einen ganz eigenwilligen Reiz versprüht andererseits die atmosphärisch dichte Schilderung Glasgows, der »Stadt der starren Blicke«. Über die Jahrzehnte gereift, hat die ursprünglich scharfe sozialkritische Relevanz eine geradezu nostalgische Note hinzugewonnen. Da ist noch alles klar nach Gut und Böse getrennt. Die Gangster prügeln sich oder schwingen das Messer, während an vorderster Front der Guten Protagonist Jack Laidlaw kämpft. Indem er für seinen Beruf alles gibt, geht seine Ehe mit zwei Kindern den Bach runter; Alkohol und eine Geliebte verschaffen dem Einzelkämpfer Trost. Nett ist er nicht: »Die bloße Kontaktaufnahme zu Laidlaw [glich] dem Versuch, einem Igel die Hand zu schütteln.«
Auch das leicht angestaubte Kolorit der Siebziger Jahre regt zum Nachdenken über die »guten alten Zeiten« an. Telefonzellen statt Smartphones, Schallplatten statt iPods, keine Computer, kein Internet, dafür allüberall prallvolle, verräucherte Pubs, wo heute wahrscheinlich Hamburger-Ketten dominieren. Damals war Glasgow noch eine düstere Arbeiterstadt mit verfallender Schwerindustrie und Massenarbeitslosigkeit; der sensationelle Strukturwandel begann erst in den Achtziger Jahren; 1990 wurde Glasgow Europäische Kulturhauptstadt.
Ungeachtet seiner Qualitäten hat McIlvanneys Krimi auch Schwächen. Die Handlung ist nicht sonderlich spannend, das Motiv für die Morde hausbacken. Der Einstieg in die Kapitel kann beschwerlich sein, wenn man bisweilen etwas zu umständlich mit einem neuen Setting, neuen Personen und wechselnden Erzählperspektiven konfrontiert wird und Orientierung finden muss, bevor man in die Handlung eintauchen kann.
Fazit: Ein Gewinn ist die Wiederentdeckung dieser einst richtungweisenden Romane allemal, und die bestens gelungene Übersetzung verschafft jede Menge Genuss. Sicher wird der Antje Kunstmann Verlag den dritten Teil der Trilogie bald folgen lassen.
Die Neuausgaben der Laidlaw-Trilogie:
• »Laidlaw« (Laidlaw Trilogy 1) (Erstausgabe 1977; Neuausgabe Juni 2014) | »Laidlaw« (Erstausgabe 1979 unter dem Titel »Im Grunde ein ganz armer Hund«; Neuübersetzung von Conny Lösch, September 2014);
• »The Papers of Tony Veitch« (1983; Juni 2013) | »Die Suche nach Tony Veitch« (Übersetzung von Conny Lösch, Februar 2015) [› Rezension];
• »Strange Loyalties« (1991; Juni 2013) | »Fremde Treue« (Übersetzung von Conny Lösch, September 2015) [› Rezension].