Rezension zu »Wolfsnächte« von William Giraldi

Wolfsnächte

von


Thriller · Hoffmann und Campe · · Gebunden · 224 S. · ISBN 9783455405385
Sprache: de · Herkunft: us

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Tier und Mensch

Rezension vom 28.09.2016 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Dies ist ein Thriller, der mit allen erforderlichen Zutaten seines Genres ausge­stattet ist und seinen Zweck – den Leser mit Angst, Schrecken und Exotik zu fesseln – gut erfüllt.

Der Schauplatz ist dunkel, unwirtlich, abweisend, bedrohlich. Wer sich Keelut, einer (fiktiven) Yupik-Siedlung in Zentral­alaska, im tiefsten Winter nähert, wird als erstes von einem sechs Meter hohen Totem­pfahl mit bunten Masken von Bären, Wölfen, menschen­ähn­lichen Wesen, obenauf die ausge­breiteten Flügel und der gewaltige Schnabel einer riesigen Eule einge­schüchtert. Im Schnee, der glitzert »wie zer­knitterte Alufolie«, findet man dann ein paar Hütten, Kirche, Schule, Huskys ange­schirrt in ihren Schlitten, umge­kippte Kanus, rostige Benzin­fässer, Ketten­sägen, zer­beulte Petro­leum­lampen.

Die unerbittlich lebensfeindliche Umgebung – Tem­pera­turen von dreißig und mehr Grad unter Null, acht­zehn­ein­halb Stunden Dunkel­heit pro Tag – hat die wenigen Menschen, die hier hausen, zu einer einge­schwo­renen, ver­schlosse­nen Gemein­schaft zu­sam­men­ge­schweißt, nach innen solida­risch, nach außen her­me­tisch, mit der um­geben­den Wildnis ver­flochten. »Das Wilde hier ist in uns. In allem.«

In diesem verrotteten, entrückten Dorf »am Rande der Wildnis, das sich ihr wider­setzte und sie gleich­zeitig will­kom­men hieß«, kultiviert der Autor eine düstere Atmosphäre mit mysti­schen Ele­menten. Den Aus­gangs­punkt bilden die Wölfe, deren Mark und Blut durch­dringen­des Geheul all­gegen­wärtig scheint. Aber sie stehen für mehr. Wie eine weise alte Yupik-Frau, die manche für eine Hexe halten, dem ange­reisten Prota­gonisten erklärt, sei »dieser Ort verflucht«. Keelut sei »der Name eines bösen Geistes, der sich als Hund tarnt. Oder als Wolf.« Dieses Böse war von Anfang an da, schon lange vor den Yupik. Viel später kamen Weiße, Missio­nare, Händler und brachten Böses von anderer, heim­tücki­scherer Art: Krank­heiten, Ver­haltens­weisen, Gedanken ... Die Menschen, fragt sie, »ver­riegeln die Tür vor dem Wolf, aber warum dann nicht vor Tieren mit den Seelen der Ver­damm­ten, oder den Männern, die sich selbst zu Tieren ver­dammen?«

Die Wölfe sind auch der Auslöser für die spannende Handlung, die hier ange­siedelt wird. »Die Wölfe kamen aus den Hügeln und holten die Kinder von Keelut«, sagt uns gleich der erste Satz des Romans. Drei solche Fälle hat es kürzlich gegeben. Die Polizei war kurz da, ohne etwas auszu­richten; die Eltern der ver­bliebe­nen Kinder bewachen ihren Nachwuchs jetzt un­unter­brochen und bewaff­net; die Eltern der geräusch­los getöteten Kinder trauern hilflos. Nur Medora Slone, deren sechs­jähriger Sohn Bailey das dritte Opfer war, sinnt auf mehr. Erst durch­kämmte sie selbst rastlos die Wälder, um Knochen­reste des Kindes zu finden, damit man es be­statten kann, und den Wolf zu töten, der es ihr für immer geraubt hat. Als ihr beides nicht gelang, schrieb sie in schierer Ver­zweif­lung einen Brief an Russel Core, einen Mann, den sie nur dem Namen nach kennt, als Autor eines Buches, das sie gelesen hat.

Russel Core, 60, ist Naturschriftsteller und Experte für Wölfe. Ein Jahr lebte er fernab der Zivili­sation mit einem Rudel. Sein Blick auf die Tiere ist voll­kommen unmystisch. Er beschreibt ihr Aussehen, ihr Zu­sam­men­leben in einer festen sozialen Ordnung und ihre Revier­gewohn­heiten streng sachlich auf der Basis seiner Beob­achtun­gen. Der schlimmste Feind des Wolfes, so folgert er, ist der Mensch. Der macht ihm seine uralten Reviere streitig, drängt ihn zurück, lässt ihm keine andere Wahl, als – nur in äußerster Not – in den Menschen­siedlun­gen zu räubern, merzt ihn schließ­lich mit seinen weit über­legenen Möglich­keiten systematisch und grausam aus.

Für Medora Slone ist das der richtige Mann, um ihre Rache­mission auszu­führen. »Sie empfinden Mitleid für dieses Tier. Bitte tun Sie das nicht. Helfen Sie mir und töten Sie es. Die Knochen meines Sohnes liegen irgendwo im Schnee«, schreibt sie ihm.

Rache an einem Tier zu nehmen, das wider­spricht allen Grund­sätzen von Russel Cores Natur­ver­ständ­nis. Warum also nimmt er diesen Auftrag an? Da ist einer­seits Neugier, ein frühes Gespür, dass irgend etwas nicht geheuer sei an der Geschichte. Tiefer greift sein Bedürfnis, sich dem Wolf an sich zu stellen, »Buße« zu tun. Denn er hat Schuld auf sich geladen, glaubt er. Vor Jahren hat er sich über­reden lassen, eine Wölfin zu töten, die ein Klein­kind auf einem Camping­platz geholt hatte. Bis heute bereut er, damals seine Auf­fas­sun­gen verraten zu haben.

Bald nimmt die Handlung eine überraschende, grund­legende Wendung, die Core in noch viel tiefere Ver­zweif­lung stürzt. Nirgends findet er Bei­stand oder gar Trost, im Gegen­teil: »Über­lassen Sie das Dorf den Teufeln«, rät ihm die Dorf­hexe.

Die Protagonisten dieses Thrillers sind allesamt durch Höllen ge­schrit­ten und – jeder auf seine Weise – gehärtet und zugleich gebrochen daraus hervor­ge­kom­men. So sucht Russel Core, vom Leben und den Menschen ent­täuscht und selbst zu einer Art ein­samem Wolf geworden, die Kon­fron­tation mit dem Schick­sal, auf die Gefahr hin, selbst ge­rissen zu werden. Medora Slones Mann, Baileys Vater, kämpft im Irak. Als er nach einem Jahr der Todes­gefahren und des Tötens heim­kehrt, kann er seine zer­mür­ben­den Erleb­nisse nicht ab­schütteln. Damit tritt eine zweite, anti­podische Welt in die des Romans ein, heiß, blutig, brutal, hinter­hältig, ein Inferno, das der Autor ebenso schonungs­los schildert wie das eiskalte Schatten­reich von Keelut. Mit diesen Erleb­nis­sen im Kopf muss der Heim­kehrer jetzt uner­wartete neue Höllen durch­que­ren.

Es ist eine illusionslose und radikal des­illusio­nie­rende Weltsicht, die hinter solch de­primie­renden Ereig­nissen steht. Ihr Kern­gedanke liegt auf der Hand und ist alt­bekannt: »Lupus est homo homini« – der Mensch selbst ist des Menschen Wolf. »Wolf und Mensch sind sich so ähnlich, dass wir sie mit­einander ver­wech­seln.«

In der finsteren Welt am Polarkreis stellt der Autor die Frage nach den Ur­sprüngen des Bösen. Am Ende der Fiktion ver­schmel­zen Tier und Mensch zu einem bösen Wesen, einem von einem Dämon be­sesse­nen Mann. Doch während Tiere aus Not­wendig­keit töten, um sich zu ernähren, um zu über­leben, tötet die Bestie Mensch aus niederster Ge­sin­nung. Russel Core, der Wolfs­experte, verliert schließ­lich jeden Glau­ben an den Menschen und »befürch­tete, dass der Mensch weder in die Zivili­sation gehörte noch in die Natur – weil er eine Ver­irrung zwischen zwei Daseins­zustän­den war«.

William Giraldis »Hold the Dark« William Giraldi: »Hold the Dark« bei Amazon , über­setzt von Nicolai von Schweder-Schreiner, ist bei kriti­scher Betrach­tung in der Rück­schau ein biss­chen verquast, ein biss­chen unlogisch, manch­mal ein biss­chen spröde in der Dialog­führung, aber als Unter­haltungs­roman spannend, intensiv und in jeder Hinsicht dras­tisch gestaltet. Den Autor reizt das Spiel mit Extremen und Parallelen, die dann ein Gleich­gewicht zwischen den konträren Polen herzu­stellen scheinen. Wie verhält sich der ›zivili­sierte‹ Mensch unter den Extremen der Wüste, wie unter den Extremen der Arktis? Wie geht er mit dem Bösen um, wie fühlt es sich an?


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