Tier und Mensch
Dies ist ein Thriller, der mit allen erforderlichen Zutaten seines Genres ausgestattet ist und seinen Zweck – den Leser mit Angst, Schrecken und Exotik zu fesseln – gut erfüllt.
Der Schauplatz ist dunkel, unwirtlich, abweisend, bedrohlich. Wer sich Keelut, einer (fiktiven) Yupik-Siedlung in Zentralalaska, im tiefsten Winter nähert, wird als erstes von einem sechs Meter hohen Totempfahl mit bunten Masken von Bären, Wölfen, menschenähnlichen Wesen, obenauf die ausgebreiteten Flügel und der gewaltige Schnabel einer riesigen Eule eingeschüchtert. Im Schnee, der glitzert »wie zerknitterte Alufolie«, findet man dann ein paar Hütten, Kirche, Schule, Huskys angeschirrt in ihren Schlitten, umgekippte Kanus, rostige Benzinfässer, Kettensägen, zerbeulte Petroleumlampen.
Die unerbittlich lebensfeindliche Umgebung – Temperaturen von dreißig und mehr Grad unter Null, achtzehneinhalb Stunden Dunkelheit pro Tag – hat die wenigen Menschen, die hier hausen, zu einer eingeschworenen, verschlossenen Gemeinschaft zusammengeschweißt, nach innen solidarisch, nach außen hermetisch, mit der umgebenden Wildnis verflochten. »Das Wilde hier ist in uns. In allem.«
In diesem verrotteten, entrückten Dorf »am Rande der Wildnis, das sich ihr widersetzte und sie gleichzeitig willkommen hieß«, kultiviert der Autor eine düstere Atmosphäre mit mystischen Elementen. Den Ausgangspunkt bilden die Wölfe, deren Mark und Blut durchdringendes Geheul allgegenwärtig scheint. Aber sie stehen für mehr. Wie eine weise alte Yupik-Frau, die manche für eine Hexe halten, dem angereisten Protagonisten erklärt, sei »dieser Ort verflucht«. Keelut sei »der Name eines bösen Geistes, der sich als Hund tarnt. Oder als Wolf.« Dieses Böse war von Anfang an da, schon lange vor den Yupik. Viel später kamen Weiße, Missionare, Händler und brachten Böses von anderer, heimtückischerer Art: Krankheiten, Verhaltensweisen, Gedanken ... Die Menschen, fragt sie, »verriegeln die Tür vor dem Wolf, aber warum dann nicht vor Tieren mit den Seelen der Verdammten, oder den Männern, die sich selbst zu Tieren verdammen?«
Die Wölfe sind auch der Auslöser für die spannende Handlung, die hier angesiedelt wird. »Die Wölfe kamen aus den Hügeln und holten die Kinder von Keelut«, sagt uns gleich der erste Satz des Romans. Drei solche Fälle hat es kürzlich gegeben. Die Polizei war kurz da, ohne etwas auszurichten; die Eltern der verbliebenen Kinder bewachen ihren Nachwuchs jetzt ununterbrochen und bewaffnet; die Eltern der geräuschlos getöteten Kinder trauern hilflos. Nur Medora Slone, deren sechsjähriger Sohn Bailey das dritte Opfer war, sinnt auf mehr. Erst durchkämmte sie selbst rastlos die Wälder, um Knochenreste des Kindes zu finden, damit man es bestatten kann, und den Wolf zu töten, der es ihr für immer geraubt hat. Als ihr beides nicht gelang, schrieb sie in schierer Verzweiflung einen Brief an Russel Core, einen Mann, den sie nur dem Namen nach kennt, als Autor eines Buches, das sie gelesen hat.
Russel Core, 60, ist Naturschriftsteller und Experte für Wölfe. Ein Jahr lebte er fernab der Zivilisation mit einem Rudel. Sein Blick auf die Tiere ist vollkommen unmystisch. Er beschreibt ihr Aussehen, ihr Zusammenleben in einer festen sozialen Ordnung und ihre Reviergewohnheiten streng sachlich auf der Basis seiner Beobachtungen. Der schlimmste Feind des Wolfes, so folgert er, ist der Mensch. Der macht ihm seine uralten Reviere streitig, drängt ihn zurück, lässt ihm keine andere Wahl, als – nur in äußerster Not – in den Menschensiedlungen zu räubern, merzt ihn schließlich mit seinen weit überlegenen Möglichkeiten systematisch und grausam aus.
Für Medora Slone ist das der richtige Mann, um ihre Rachemission auszuführen. »Sie empfinden Mitleid für dieses Tier. Bitte tun Sie das nicht. Helfen Sie mir und töten Sie es. Die Knochen meines Sohnes liegen irgendwo im Schnee«, schreibt sie ihm.
Rache an einem Tier zu nehmen, das widerspricht allen Grundsätzen von Russel Cores Naturverständnis. Warum also nimmt er diesen Auftrag an? Da ist einerseits Neugier, ein frühes Gespür, dass irgend etwas nicht geheuer sei an der Geschichte. Tiefer greift sein Bedürfnis, sich dem Wolf an sich zu stellen, »Buße« zu tun. Denn er hat Schuld auf sich geladen, glaubt er. Vor Jahren hat er sich überreden lassen, eine Wölfin zu töten, die ein Kleinkind auf einem Campingplatz geholt hatte. Bis heute bereut er, damals seine Auffassungen verraten zu haben.
Bald nimmt die Handlung eine überraschende, grundlegende Wendung, die Core in noch viel tiefere Verzweiflung stürzt. Nirgends findet er Beistand oder gar Trost, im Gegenteil: »Überlassen Sie das Dorf den Teufeln«, rät ihm die Dorfhexe.
Die Protagonisten dieses Thrillers sind allesamt durch Höllen geschritten und – jeder auf seine Weise – gehärtet und zugleich gebrochen daraus hervorgekommen. So sucht Russel Core, vom Leben und den Menschen enttäuscht und selbst zu einer Art einsamem Wolf geworden, die Konfrontation mit dem Schicksal, auf die Gefahr hin, selbst gerissen zu werden. Medora Slones Mann, Baileys Vater, kämpft im Irak. Als er nach einem Jahr der Todesgefahren und des Tötens heimkehrt, kann er seine zermürbenden Erlebnisse nicht abschütteln. Damit tritt eine zweite, antipodische Welt in die des Romans ein, heiß, blutig, brutal, hinterhältig, ein Inferno, das der Autor ebenso schonungslos schildert wie das eiskalte Schattenreich von Keelut. Mit diesen Erlebnissen im Kopf muss der Heimkehrer jetzt unerwartete neue Höllen durchqueren.
Es ist eine illusionslose und radikal desillusionierende Weltsicht, die hinter solch deprimierenden Ereignissen steht. Ihr Kerngedanke liegt auf der Hand und ist altbekannt: »Lupus est homo homini« – der Mensch selbst ist des Menschen Wolf. »Wolf und Mensch sind sich so ähnlich, dass wir sie miteinander verwechseln.«
In der finsteren Welt am Polarkreis stellt der Autor die Frage nach den Ursprüngen des Bösen. Am Ende der Fiktion verschmelzen Tier und Mensch zu einem bösen Wesen, einem von einem Dämon besessenen Mann. Doch während Tiere aus Notwendigkeit töten, um sich zu ernähren, um zu überleben, tötet die Bestie Mensch aus niederster Gesinnung. Russel Core, der Wolfsexperte, verliert schließlich jeden Glauben an den Menschen und »befürchtete, dass der Mensch weder in die Zivilisation gehörte noch in die Natur – weil er eine Verirrung zwischen zwei Daseinszuständen war«.
William Giraldis »Hold the Dark« , übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner, ist bei kritischer Betrachtung in der Rückschau ein bisschen verquast, ein bisschen unlogisch, manchmal ein bisschen spröde in der Dialogführung, aber als Unterhaltungsroman spannend, intensiv und in jeder Hinsicht drastisch gestaltet. Den Autor reizt das Spiel mit Extremen und Parallelen, die dann ein Gleichgewicht zwischen den konträren Polen herzustellen scheinen. Wie verhält sich der ›zivilisierte‹ Mensch unter den Extremen der Wüste, wie unter den Extremen der Arktis? Wie geht er mit dem Bösen um, wie fühlt es sich an?