Gravesend
von William Boyle
Conway will tödliche Rache nehmen an Ray Boy, der seinen kleinen Bruder auf dem Gewissen hat und für die Schandtat sechzehn Jahre einsitzen muss. Es kommt zum Showdown, doch alles läuft anders als erwartet. Melancholisches Porträt eines trostlosen New Yorker Stadtviertels und seiner gebrochenen Bewohner.
Die Hölle in dir
Gar nicht so weit weg von den goldenen Straßen Manhattans, wo der American Dream wohnt, liegt im Süden von Brooklyn das Stadtviertel Gravesend. Ein Tellerwäscher ist dort noch nie zum Millionär geworden, kann sich aber schon wie einer fühlen, denn in seinem Umfeld hat er bereits das große Los gezogen. Die meisten anderen sind arbeitslos, bitterarm, dem Alkohol und anderen Drogen verfallen, die Familien zerbrochen, manche obdachlos.
Dies ist der trostlose Ort, aus dem die Figuren von William Boyles Kriminalroman stammen, in dem die Handlung verwurzelt ist. Ob Haupt- oder Nebenrollen, alt oder jung – sie wissen, dass ihnen das Leben bisher nichts geschenkt hat und sie auch zukünftig nichts zu erwarten haben. Sollte sie augenblicklich der Tod hinwegraffen, so die verbreitete Mentalität, nichts wäre ihnen genommen, nichts würden sie verpassen. Aus diesem Grundstoff hat Boyle, selbst in Brooklyn aufgewachsen, in seinem Debüt einen faszinierenden Rache-Plot gewebt, den er bis zum außergewöhnlichen, ergreifenden Ausgang mit großer Sensibilität erzählt. Über allem liegt eine leicht melancholische Stimmung, die in der Übersetzung von Andrea Stumpf wunderbar erhalten ist.
Conway D’Innocenzio heißt der Protagonist, ein tragischer Antiheld ohne Selbstvertrauen, ohne Talente, aber mit Herz und einem Plan. Sechzehn Jahre zuvor hat er seinen kleinen Bruder Duncan verloren. Der war wegen seiner Homosexualität in der Schule lange Zeit gemobbt, geprügelt und schließlich in den Tod getrieben worden. An dem Verantwortlichen, Ray Boy Calabrese, will Conway jetzt Rache nehmen. Dazu muss er freilich erst einmal schießen lernen. Ein gescheiterter Ex-Cop übt mit ihm den Todesschuss auf die Zielperson, repräsentiert durch ein aufgeklebtes altes Zeitungsfoto. Doch immer wieder lässt Conway seinen Arm von der Knarre verziehen. So, sagt McKenna, wird er »im echten Leben nie was treffen«, er solle seinen mörderischen Plan lieber fallen lassen. »Du wirst mit der Hölle in dir leben … Nicht die Vorhölle. Die richtige Hölle.«
Die gesetzliche Strafe für seine Untat hat Ray Boy derweil schon abgesessen. Gleich nach der Tat hatte ein Gericht ihn und seine drei Kumpel zur Höchststrafe verurteilt. Für die hinterbliebene Familie des Opfers wurde indes das schiere Weiterleben zur Hölle. Duncans Mutter verfiel dem Alkohol, verließ Conway und ihren Mann, und niemand weiß, was aus ihr geworden ist. Frankie, Conways Vater, von Gicht und einem schweren Leben gequält, steckte auch diesen Tiefschlag ein, ohne gebrochen zu werden. Conway haust weiterhin mit ihm in seiner Bruchbude und jobbt für einen Hungerlohn als »Regalauffüller« im Supermarkt. Mehr an eigener Lebensgestaltung ist für den inzwischen fast Dreißigjährigen nicht drin. Allerdings hatte er ohnehin noch nie etwas auf die Reihe bekommen, versackte zeitweise im Drogensumpf, versuchte, sich die Pulsadern aufzuschlitzen. Was ihn jetzt durchhalten lässt, ist einzig das dem Bruder ins Grab gegebene Versprechen, Rache an seinem Mörder zu nehmen.
Jetzt ist Ray Boy also draußen und hat sich nach Hawk’s Nest abgesetzt. Das Kaff im Upstate New York ist nicht weniger heruntergekommen als Gravesend, nur stiller. Am Rande längst nicht mehr befahrbarer Straßen verfallen unbewohnte Häuser, die Einfahrten mit Holzböcken versperrt, die zerschlagenen Fenster mit Plastikplanen zugenagelt, die Dächer zusammengesackt. Eins von ihnen ist das seit Ewigkeiten im Familienbesitz befindliche versiffte Schindeldachhaus, in das sich Ray Boy einquartiert hat und wohin sich Conway umgehend auf den Weg macht.
Wie es weitergehen soll, hat Conway nicht festgelegt. Würde ihm nach dem Mord die Flucht nach Kanada gelingen? Oder würde ihn die Polizei einbuchten? Oder würde es gar nicht so weit kommen, weil der »wahnsinnsstarke« Ray Boy ihm im Bruchteil einer Sekunde grinsend die Waffe aus der Hand schlüge und auch ihm, wie schon seinem Bruder, ein Ende bereiten würde?
Der Showdown folgt in Vorbereitung und Verlauf den Ritualen, wie man sie aus zünftigen Western kennt, hält aber manche Überraschung bereit und nimmt ein völlig unerwartetes Ende. Das trifft nicht nur die unmittelbar Beteiligten und den Leser, sondern auch Ray Boys fünfzehnjährigen Neffen Eugene. Der hat schon sehnlichst auf die Rückkehr seines Idols gewartet, auf dass er ihn aus seinem Frauenhaushalt (alleinerziehende Mutter und Tante), dem Spott seiner Altersgenossen (wegen seines Hinkebeins), der Schule und allem, was er sonst noch hasst, heraus hole und mit ihm einen ultimativen Riesencoup durchziehe.
Das Quartett der prekären Protagonisten komplettiert die überaus ansehnliche Alessandra Biagini. Mit achtzehn hatte sie noch Träume, brach aus dem elenden Gravesend aus und wollte in Los Angeles als Schauspielerin reüssieren. Leider waren die Träume nichts als Schäume, ihr begrenztes Talent reichte nur für kleine Auftritte auf Homeshopping-Kanälen, aber ihr attraktives Äußeres (weniger ihre Stimme) verschaffte ihr eine Ausweichkarriere als Frontfrau einer Tingelband. Auftritte bei Hochzeiten und dergleichen halten sie seit zehn Jahren einigermaßen über Wasser. Familiäre Umstände bringen sie zurück in die Heimat, wo sie nicht nur die Trostlosigkeit von Gravesend, sondern auch ihres eigenen versiebten Lebens erkennt. Würde sie jetzt auch »eins von diesen Gespenstern im Viertel werden«?
Diesen Chor der Verlorenen beschreibt William Boyle mit realistischem Detail, ohne jegliche Beschönigung, aber auch ohne demütigende Bloßstellung. Ihre Sprache ist derb. Sie begleiten die Wege der Protagonisten, die parallel verlaufen, abwechselnd erzählt werden, einander ab und an berühren und schließlich auf ein dramatisches, infernalisches Ende zusteuern. Den Soundtrack dazu liefern ihnen Rap, Hip-Hop und Punk (Ice Cube, Dre, Snoop Dogg, Wu Tang, The Replacements, Pixies …).
In William Boyles Erstling herrscht eine tiefschwarze Atmosphäre, und doch rührt der Roman den Leser auf eigenartige Weise durch seine Empfindsamkeit, seine einfühlsamen Milieuporträts und eine Handlung, bei der man sich die Haare raufen möchte und am Ende eine Gänsehaut bekommt.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2018 aufgenommen.