Die dritte Quelle
von Werner Köhler
Ungefähr ein Dutzend Deutsche sind in den Dreißigerjahren nach und nach auf die Galapagos-Insel Floreana ausgewandert. Ihr Paradies fanden sie dort nicht. Köhlers Roman schildert die Atmosphäre auf dem einsamen Eiland und fügt den dünnen Fäden der überlieferten Vorgänge einen passenden fiktionalen hinzu.
Geplatzte Träume am Ende der Welt
Floreana ist eine der kleineren Inseln im Süden des Galapagos-Archipels, der politisch zu Ecuador gehört – von Europa aus betrachtet, ein exotisches Fleckerl am anderen Ende der Welt. Doch was sich dort in den Dreißigerjahren abspielte, erregte damals weltweit Aufmerksamkeit und schlug sich in zahlreichen Zeitungsartikeln und Büchern nieder.
Im Verlauf weniger Jahre hatten ein paar Deutsche unabhängig voneinander und mit unterschiedlicher Motivation die kleine Insel besiedelt, wobei es zu dramatischen, mysteriösen und bizarren Vorfällen kam. Durch die journalistische Berichterstattung sind die Ereignisse recht ausführlich überliefert, wenn auch widersprüchlich, da die wenigen Siedler vor Ort mit ihren Auskünften natürlich eigene Interessen verfolgten. Aus all dem hat der Autor Werner Köhler, 1956 in Trier geboren, nun eine Geschichte gestaltet, die historische Tatsachen und Fiktion, Exotik und Kleinbürgerliches, Abenteuer und Banales verwebt.
Im Mittelpunkt steht ein fiktiver, sehr persönlicher Erzähler namens Harald Steen, 65, der uns bis ins kleinste Detail offenlegt, was er erlebt, beobachtet und empfindet. Nach außen hin wirkt der Bankangestellte verschlossen, ein frühverrenteter Langeweiler, etwas linkischer Einzelgänger, in der Liebe unerfahren. Nach dem Tod seiner Adoptiveltern hält ihn nichts mehr in Hamburg, wie ihn vize versa auch die Arbeitskollegen kaum vermissen werden. Nichts spricht für ihn dagegen, seine Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen und den Rest seiner Tage irgendwo am anderen Ende der Welt zu verbringen.
Das ferne Archipel am Äquator hat Steen sich nicht zufällig ausgesucht, behält seine Beweggründe aber von Anfang an für sich. Sein eigentliches Ziel ist die Insel Floreana, 173 Quadratkilometer groß und von einem bewaldeten Vulkankegel geprägt. Sie wurde mehrfach besiedelt, als Stützpunkt für norwegische Fischer, als Strafkolonie, von Flüchtlingen der Wirtschaftskrise, doch immer nur zeitweise, bis sie schließlich durch »zwei deutsche Auswandererfamilien und eine falsche Baronin« zu trauriger Berühmtheit in der Weltpresse avancierte. Als Steen Ende der Neunzigerjahre anreist, wohnen dort sechzig Menschen, darunter ein Pfarrer, ein Bäcker, ein chinesischer Kolonialwarenhändler, dazu wechselnde Meeresbiologen und Angestellte zweier Pensionen.
Das erste Kapitel erzählt Steens Anreise. Sie dauert Monate, soll »unter dem Radar der Behörden« verlaufen und ist beschwerlich. Frachtschiffe bringen ihn und ein paar andere illustre Passagiere von Rotterdam durch den Panama-Kanal nach Ecuador, wo er im glühend heißen Guayaquil und im frühlingshaften Quito abwartet, bis ihn Ende August 1999 ein Seelenverkäufer die letzten 1200 km nach Floreana schippert. Dort bezieht er ein Zimmer in der besseren der beiden Herbergen. Sie wird bis heute von der Familie Wittmer aus Köln geführt, die 1932 vor der Wirtschaftskrise hierher floh und Ende der Fünfzigerjahre eine kleine Unterkunft für die wenigen Touristen eröffnete. Nach diversen Modernisierungen und Anbauten ist das ockergelb gestrichene Gebäude inzwischen ein bekannter Hingucker auf der kleinen Insel.
Im zweiten, dem längsten Kapitel schildert Steen sein Einleben auf der Insel. Er muss sich mit einer unwirtlichen Natur auseinandersetzen und seine wahren Intentionen tarnen. Denn die wenigen Einheimischen sind misstrauisch, seit das Schicksal der ersten Deutschen, die sich fast sieben Jahrzehnte zuvor hier niedergelassen hatten, weltweites Aufsehen erregten. Deshalb erklärt Steen der Wittmer-Tochter Ingeborg, 1937 geboren, dass er hier zu sich selbst finden und in den kommenden zwei Monaten ein Buch schreiben wolle.
Tatsächlich erkundet Steen vorsichtig die rätselhafte Geschichte der deutschen Siedler auf Floreana. Schon im Vorfeld hatte er alles gelesen, was er irgendwo auftreiben konnte, darunter die Tagebuchaufzeichnungen des Pioniers Dr. Friedrich Ritter (»Als Robinson auf Galapagos«), das Buch »Satan came to Eden« seiner Geliebten Dore Strauch und »Postlagernd Floreana«, die Memoiren Margret Wittmers, der einzigen noch lebenden Augenzeugin. Für die Sechsundneunzigjährige, eine »echte rheinische Frohnatur«, ist das Thema allerdings durch, seitdem ihr Buch zu einem weltweiten Bestseller geworden war, und sie ist nicht gewillt, »die ollen Kamellen wieder aufzuwärmen«.
Alle paar Wochen kommt ein Mediziner auf die Insel, um seine Sprechstunde abzuhalten. Dies führt zu einer bemerkenswerten Wendung in Steens Leben, denn er verliebt sich in die Assistentin des Arztes, eine hübsche Witwe mit elfjähriger Tochter. Obwohl der Deutsche gut drei Jahrzehnte älter ist und sie durchaus auch jüngere Verehrer anzieht, willigt sie ein, ihn zu heiraten. Nun nimmt die Handlung immer merkwürdigere Züge an, als gehe von der Insel eine mystische, auch zerstörerische Kraft aus. Als Hochzeitsreise erkunden die beiden die unbekannte, unwirtliche Ostseite der Insel, wo Steen Nietzsches Zarathustra-Verse von der »Ewigen Wiederkehr« deklamiert und absonderliche Entdeckungen macht, die ihn verzücken und verwundern, uns Leser dagegen mit allerlei denkbaren Schlussfolgerungen, letztendlich aber Mutmaßungen, Spekulationen, Rätseln zurücklassen – Wahnsinn, letztgültige Erkenntnisse oder Happy End?
Obwohl man solche Leerstellen (sofern es welche sind) als unbefriedigend empfinden mag, ist Werner Köhlers »Die dritte Quelle« ein faszinierendes und spannendes Werk, ein unglaublich fesselnd geschriebener Abenteuerroman. Dass am Ende nicht alles eine einfache Antwort findet, passt zu dem »Fluch dieser Insel«, auf der tatsächlich mehrere Menschen spurlos verschwanden oder auf unerklärliche Weise verstarben. Im Übrigen verweisen die durchaus eigenartigen Ankömmlinge aus der fernen Zivilisation Europas vielleicht darauf, dass sich auch dort nach ihrer Abreise Entwicklungen vollziehen, die ein rationaler Vertreter abendländischer Werte kaum für möglich gehalten hätte.
Vom ersten bis zum letzten Satz überzeugt auch die sprachliche Gestaltung, die unsere Vorstellungskraft anregt und lebendige Bilder hervorruft, beispielsweise wenn der Autor die Verhaltensweisen der Insulaner schildert, das umfängliche Gepäck der Kölner Familie für ihre Auswanderung vorstellt oder Landschaften und Tiere detailreich erfasst (»Normalerweise […] war die Haut der männlichen [Leguane] schwarz gefärbt, dieses Exemplar leuchtete rötlich in der Sonne – die Paarungszeit hatte begonnen. Siehst aus wie Godzilla …«. Brilliant, wie Werner Köhler unser Kopfkino ohne Durchhänger und ohne Ermüdung beständig am Laufen hält. Selbst aus Beschreibungen der Flora vermag er mitreißende Texte zu zaubern. So wird eine Gruppe Kakteen zu einer »Fußballmannschaft, die sich zum finalen Aufputschen vor dem Match am Mittelkreis des Spielfelds aufgestellt hatte«.
Dass die Bewohner dieser Insel, deren Name ein blumiges, friedliches Paradies assoziieren lässt, in Wahrheit in einer menschenfeindlichen »Hölle« ausharren, wird immer deutlicher. Das Klima ist unbarmherzig. Trockenperioden und Gewitter mit furchterregenden Blitzeinschlägen, unerträgliche Hitze und sintflutartige Regenfälle wechseln unvermittelt. Hier ein Stück Land urbar machen, etwas pflanzen und nach ungewissen Monaten ernten zu wollen, noch dazu ohne fremde Hilfe, gleicht einer Sisyphusaufgabe. Mit einer Machete bewaffnet schlägt sich Steen durch die Wildnis, wo seine Kleidung zerreißt und seinen Körper, mit entzündeten Narben überzogen, kleinem Viehzeug preisgibt, das sich auf seiner verschwitzten, sonnenverbrannten Haut niederlässt, um ihm sein heimtückisches Gift einzuspritzen. Tagelang ringt er mit dem Tod.
Steen ist ein eigenbrötlerischer Held, der sich in Einsamkeit, Alleinsein und Schweigen auskennt. Als einzigen Vertrauten gewinnt er einen Vierbeiner, der sich ihm treu zugesellt. Er tauft ihn »Herr Hund« und philosophiert mit ihm über »Gott und die Welt«. Die wenigen anderen Inselbewohner nennen Steen unter sich »Fitzcarraldo«, da er Ähnlichkeit mit dem wahnsinnigen Opernfanatiker aus Werner Herzogs Film hat. Und natürlich liegt eine Parallele zu Joseph Conrads »Heart of Darkness«-Konzept auf der Hand, wenn Steen zu einer Expedition ins »Herz der Insel« aufbricht, um die Geheimnisse einer dunklen Vergangenheit zu ergründen.
Werner Köhler hat eine interessante Biografie. Als Kind kochte er für die Familie, absolvierte dann eine Buchhändler-Lehre, machte Karriere bei einer Kette von Buchhandlungen, gehörte nach einem persönlichen Zusammenbruch zu den Begründern der lit.Cologne, wurde im Fernsehen als »Gourmetkoch« populär und verfasst seit 2005 Kriminalromane.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2022 aufgenommen.