Am Hügel von Capodimonte
von Wanda Marasco
Am Totenbett von Vincenzina Umbriello sitzt ihre Tochter Rosa Maiorana. Sie betrachtet die Verstorbene, spricht eindringlich mit ihr. Sie will sich der Seele ihrer Mutter annähern, ihr Wesen verstehen. In einer langen Zwiesprache mit ihr erzählt sie Vincenzinas Lebensgeschichte.
Das Purgatorium als Mosaik
Vincenzina Umbriello ist tot. Rosa Maiorana, ihre Tochter, betrachtet ihren verdorrten Körper, die »Spuren aller abgeschlossenen Handlungen« darauf. Etwas in ihr drängt sie, mit ihrer Mutter und über sie zu sprechen. Wer war diese Frau? Was hat sie erlebt? Wer, was hat sie geprägt?
Dies ist die Ausgangssituation von Wanda Marascos Roman »La compagnia delle anime finte«, der soeben in der ausgezeichneten Übersetzung von Anna Kopetzki auf Deutsch erschienen ist. Er ist nicht weniger als ein erzählerisches Glanzstück zwischen Prosa und Poesie, Familienepos und Psychogramm, individuellen Schicksalen und dem Portrait einer ganzen Stadt, das für den Premio Strega 2017 kandidierte und bis in die Schlussrunde der letzten fünf Titel mitmischte.
Rosa hält einen langen Monolog, der eine Unmenge kleiner Szenen aus Vincenzinas Familiengeschichte aneinanderreiht. Wie eine auktoriale Erzählerin schaut sie hinein ins Innenleben der Menschen, kennt ihre Stimmungen und Gedanken, ihre Träume und die Gespenster, die sie heimsuchen. Das meiste entspringt natürlich ihrer kühnen Imagination: »Ich weiß nicht, ob dies deine wahre Geschichte ist, aber ich lerne gerade, eine zu konstruieren, die dir ähnelt.« Immer wieder wendet sich Rosa an die Mutter (»Hörst du mich, Ma?« – »Du bist aus dem Nichts und der Angst gekommen, Ma.«), wie um Nähe, Vergewisserung, Anknüpfungspunkte zu suchen. Zwar folgt ihre Erzählung insgesamt der Chronologie, aber im Detail sind die kurzen Episoden (zwei oder drei Seiten lang) eher assoziativ verknüpft. Der Roman hat keine Gliederung in Kapitel und keinen durchgehenden Plot.
Das Leben von Vincenzina und ihrer Familie, wie wir es über mehr als einhundert Jahre hinweg geschildert bekommen, ist dramatisch, in mancher Hinsicht tragisch. Es sind freudlose Lebensläufe, die keinen Raum lassen für Herzenswärme und Liebe (nicht einmal für Freundlichkeit), deren Herausforderungen ohne Chancen sind, die keine Zuversicht zulassen, Hoffnungen zerstören, herbe Entschlossenheit und Entsagung fordern. Sie sind angefüllt mit Armut und Leid, Niederlagen und Demütigungen, Gewalt, Krankheit und Tod, sie sind gezeichnet von starken Emotionen wie Enttäuschung, Missgunst, Eifersucht, Rachegelüsten und Hass.
Es sind zwei Familien, deren Wege sich im März 1946 verschränken, als Rafele Maiorana, »ein echter Herr«, der siebzehnjährigen Vincenzina Umbriello begegnet. Deren Großmutter Adelì verbrachte ihr Leben in Villaricca, einem Landstädtchen wenige Kilometer nördlich von Neapel. Hierarchien und Zwänge begrenzten Denken und Verhalten, die kargen Lebensumstände diktierten Sparsamkeit und Strenge auch gegenüber den drei Töchtern Iolanda, Vincenzina und Italia. Adelìs Seele war verhärtet. Brutal rechnete sie mit ihrem untreuen Ehemann Biasino ab, mitleidlos trieb sie ihre hübscheste Tochter Iolanda aus Eifersucht und Missgunst in den Wahnsinn.
In der engen Umgebung ist Vincenzina ein bescheidenes, aber aufgeschlossenes, willensstarkes Kind. Erst Rafele weitet ihren Horizont, spricht vom Meer, von Amerika. Er stammt aus der Akademikerfamilie Maiorana – Ärzte, Anwälte, Landbesitz, ein palazzo gleich am Dom –, ist darin aber ein Fremdling, der sich dem Leistungsdruck verweigert. Er verliebt sich in die arme Dienstmagd Vincenzina, macht ihr den Hof und heiratet sie schließlich im Oktober 1947 – aus einer Mischung von Schwäche, Angst (vor Vincenzinas Brüdern, die den Verführer zum Eheversprechen nötigen) und Trotz (gegen seine kontrollsüchtige, intrigante Mutter Lisa, die die Schwiegertochter ihr Leben lang verachtet). Durch ihre jeweiligen Milieus geprägt – beide voller Zwänge –, erlangen beide keine persönliche Souveränität. Wie ihre Mutter wird Vincenzina eine harte, illusionslose Frau, die auch die Untreue ihres Mannes schweigend erträgt.
Die Familie bezieht eine winzige Wohnung im elenden Rione Sanità an einer der Treppengassen, die hinauf zum Capodimonte führen. Die Bewohner sind eine »compagnia«, eine Schicksalsgemeinschaft. Hier wächst Rosa, die Erzählerin, auf. Lehrer Nunziata, gebildet, klug und verrückt zugleich, fördert sie, Freundin Annarella fordert sie, und wie ein griechischer Chor begleiten »die Hauskrähen«, die Tratschweiber, alle unerhörten Vorkommnisse im Viertel, etwa das Gebaren des Nachbarjungen »Mariomaria«, der lieber eine Frau wäre und ein tragisches Ende findet. Früh mit allen Härten des Lebens konfrontiert, wird Rosa schnell erwachsen.
Als Rafele an Krebs erkrankt, verschuldet sich seine lebenstüchtige Frau bei einem Wucherer, um die Medikamente bezahlen zu können. Nach dem frühen Tod ihres Mannes beginnt sie selbst, Geld zu verleihen. Bei ihren Geschäftsgängen zu den Unglücklichen in den düsteren bassi des Viertels muss Rosa sie begleiten, weil sie rechnen und die Bücher führen kann.
Der Überblick zeigt, dass Vincenzina der Brennpunkt eines Romans über Frauen ist. Während die wenigen Männer darin schwach, unentschieden oder charakterlich fragwürdig erscheinen, sagt die Autorin in einem Interview von ihren Protagonistinnen, sie seien »Frauen, die von einfacher Herkunft, schlechter Erziehung und dem Stillstand der Lebensverhältnisse gekennzeichnet, aber keine passiven Opfer sind«. Sie seien keineswegs vollständig verloren, sondern trügen genügend menschliche Eigenschaften in sich, um Veränderung und Fortschritt herbeizuführen. Mütter und die Kirche sind die wahren Autoritäten dieses Universums; wer sich mit ihnen anlegt, erntet Rache.
Eine weitere Protagonistin des Romans ist Neapel. Selten habe ich die Atmosphäre der Stadt am Vesuv so hautnah erlesen wie in Marascos Roman. Er greift tiefer und höher, vom königlichen Berg Capodimonte über die Innenstadt mit dem schwarzen Straßenpflaster bis hinab in die finsteren Eingeweide der Stadt. Dabei beschreibt Rosa die Schauplätze gar nicht so explizit. Vielmehr erschaffen die Bewohner die engen Gassen, Treppen, Einraumwohnungen, indem sie reden, schauen, sich bewegen. Die besten Szenen sind die, in denen Vincenzina die vielen Stufen der Centoscale hinabläuft, ihre Blicke alles erfassen, was vor sich geht, hierhin und dorthin ruft, und später, wenn es schon dunkelt, mit Gemüse und Einkäufen beladen Stufe um Stufe emporsteigt. (Deswegen ist das Cover, ein Schwarz-Weiß-Foto von Piergiorgio Branzi, ein wahrer Glücksgriff.) Andere faszinierende Wegbeschreibungen führen zum Hafen hinunter oder durch eine versteckte basso-Tür in den uralten, bis in die Neuzeit genutzten Untergrund der Stadt.
Mit den Elendsvierteln des Rione Sanità kontrastieren die weitläufige Stadtvilla der Maiorana an der via Duomo mit ihrer verstaubten, freudlosen, eingesperrten Vornehmheit und die ländlichen Szenen in Villaricca, wo es wenigstens Sonne und einen weiten Himmel gibt. Die Fahrt im Bummelzug dorthin geht durch bukolische Landschaften und schenkt dem Reisenden Muße zum Nachdenken.
Während die Erzählerin Feuerwerke von Impressionen liebt und in Aufzählungen und sprudelnde Satzreihen kleidet, sind die Dialoge der Figuren spröde wie ihr Leben. Ihre Sätze sind kurz, die Botschaften deutlich, das Idiom ist der neapolitanische Dialekt. Den kann kein Übersetzer in eine andere Sprache mitnehmen, aber Annette Kopetzki trifft gut den Ton und schließt, um den Klang erlebbar zu machen, ein wenig Originaltext ein: »Sie muss sich in Hitze reden, wenn sie Rabatt fordert, sich in den Schatten unter dem Bogengang stellen, aus einem Fondaco-Gewölbe herauskommen, das den Weg abkürzt, alles Nötige einkaufen, durch einen obszönen Gesang und eine Prozession qualmender Kerzen im Vico dei Cristallini hindurchgehen, keine Miene vor einem Bettler verziehen, der ihr den Weg versperrt, sagen, ich habe nichts, oder nichts sagen, doch mit zusammengebissenen Zähnen fluchen, ›stu muorto ‘e famme, iesse a fatica‹, soll er doch arbeiten gehen, der Hungerleider, und mit der Last der vollen Taschen wieder hinaufsteigen …«.
Dies ist kein Roman, der Nostalgie aufkommen lässt, und keine leichte Lektüre. Das Gewirr von Namen, Orten, Episoden und die Zeitsprünge erschweren den Überblick, mancher Passus ist rätselhaft. Aus den Mosaiksteinchen der Szenen setzt sich aber nach und nach ein großartiges Bild zusammen. Die Sprachkraft der Autorin (und der Übersetzerin) verleiht ihm seine reizvollen Schattierungen. Der ruhige Erzählduktus schafft einen festen Boden des Realismus. Am bestechendsten ist freilich Marascos Fähigkeit, mit ihrer lebhaften Bildersprache (»Der Palazzo, wo Rafele wohnt, kommt ihr entgegen wie eine Rüstung.« »Die vier Grundrechenarten waren für sie wie die vier Reiter der Apokalypse.«) und der poetischen Schönheit ihrer Prosa den Seelen ihrer Figuren, ihren Erlebnissen und der Stadt Neapel einen eigenartigen Zauber zu verleihen.