Rezension zu »Transatlantik« von Volker Kutscher

Transatlantik

von


Im Frühjahr 1937 steht es schlecht um Charlotte Rath. Ihr Ehemann wurde erschossen, ihren Ex-Pflegesohn Fritze erwartet ein Gerichtsverfahren, ihre beste Freundin ist verschwunden, ihre Ausreisepläne zerschlagen sich, sie wird in eine Mordermittlung involviert. Für uns Leser nehmen die Rätsel überhand, selbst vermeintliche Gewissheiten geraten in Zweifel, und in Amerika scheint alles möglich.
Historischer Kriminalroman · Piper · · 592 S. · ISBN 9783492071772
Sprache: de · Herkunft: de

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Unsicheres Terrain

Rezension vom 11.02.2023 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Die Reihe der »Rath-Romane« von Volker Kutscher gehört zu Recht zu den bedeu­tend­sten der letzten fünfzehn Jahre. Ihr Erfolg beruht auf den span­nenden Kriminal­fällen, die Kommissar Gereon Rath zu lösen hat, aber wohl mehr noch auf dem sorg­fältig recher­chierten und histo­risch über­zeugend gestal­teten Setting im Berlin der späten Weimarer Republik und des National­sozialis­mus – eine Epoche, die zuvor von der Unter­haltungs­litera­tur eher aus­geklam­mert wurde. In diesen Jahren von politi­scher Brisanz sind alle Charak­tere immer wieder mit Situa­tionen kon­fron­tiert, die gleich­zeitig Vorteile verspre­chen, Gefahren bergen und un­abseh­bare Konse­quen­zen zeitigen können. Wir kennen die weit­reichen­den Folgen für Millionen Indivi­duen und ganze Völker. So mag es von heute aus zurück­bli­ckend einfach zu beur­teilen sein, ob ein einzelner persön­licher Schritt damals richtig oder falsch, klug oder töricht, frei­willig gewählt oder unaus­weich­lich war – Volker Kutscher gelingt es, die Nöte seiner Figuren mitten in der jewei­ligen Ent­schei­dungs­situa­tion hautnah miter­leben zu lassen.

Im Verlauf der bisherigen acht Bücher haben wir verfolgt, welch unter­schied­liche Wege der Prota­gonist und eine ganze Reihe seiner Zeit­genos­sen ein­ge­schla­gen haben, so dass der treuen Leser­schaft ein breites Spektrum der politi­schen und sozialen Stim­mun­gen ver­mit­telt wurde. Trotzdem konnten Neu­ein­steiger jeden Roman durchaus ohne Kenntnis der Vorgänger lesen. »Olympia«, der achte Band, endete offen mit einem sen­satio­nellen Cliff­hanger. Am 6. Mai 1937 explo­dierte bei der Landung in Lake­hurst, New Jersey, der legen­däre Zeppelin »Hinden­burg«. Dass Gereon Rath an Bord war, wussten wir Leser, nicht aber, ob er zu den 35 Über­leben­den oder zu den über 60 Todes­opfern des Infernos gehörte. Und falls er überlebt hatte, was würde nun aus ihm werden?

Anstatt unsere derart angestachelte Neugier zu stillen, dreht »Trans­atlantik« nun erst einmal eine Pirouette. Denn Gereons Ehefrau Charlotte (»Charly«) war nicht einmal bekannt, dass ihr Mann über den Atlantik fliegen würde. Offiziell hieß es, er sei er­schos­sen worden und seine Leiche unauf­find­bar. So wird die ›Hinter­blie­bene‹ zunächst zur Prota­gonis­tin des neunten Bandes, und erst nach der Hälfte der Seiten hebt das berühmte Luft­schiff mit dem Ziel Amerika ab.

Jetzt ist Charly also allein­stehend, und zusätz­lich zur Trauer über Gereon lasten schwere Sorgen auf ihr. Ihr ehema­liger Pflege­sohn Friedrich Thor­mann, genannt Fritze, sitzt in U-Haft, und ihre beste Freundin und Mit­bewoh­nerin Greta ist ver­schwun­den.

Bei der Olympiade im Vorjahr war ein diffi­ziler Mord geschehen, dessen wahre Hinter­gründe vertuscht werden sollen. Fritzes damalige Zeugen­aussage passt nicht ins offi­zielle Konzept. Deswegen soll ihm jetzt, im Frühjahr 1937, der Prozess gemacht werden, um ihn möglichst für den Rest seiner Tage hinter den Gittern einer Psychia­trie mundtot zu wissen. Doch es kommt anders: Ein an­gese­hener Major bekennt sich zu seiner Vater­schaft für Fritze, der wird freige­lassen und in die Obhut seiner früheren Pflege­familie zurück­gege­ben. Die Rade­machers sind linien­treue Partei­genos­sen, und Fritze, selbst begeis­terter Nazi, fügt sich mit vorbild­lichem Verhalten in sein neues altes Leben ein.

Da dem Ehepaar Rath wegen politi­scher Unzu­ver­lässig­keit die Erzie­hungs­befug­nis für Fritze entzogen worden war, ist Charlotte der Umgang mit ihm untersagt, doch das hindert sie nicht, sich heimlich mit ihm zu treffen. Sie möchte ihn über­zeugen, mit ihr nach Prag auszu­reisen. Doch Fritze erweist sich zu ihrem Entsetzen als strammer Anhänger der herr­schen­den Ideologie und sträubt sich vehement gegen ihr Vorhaben. Unter diesen Bedin­gun­gen muss sie ihre Flucht­pläne vorerst fallen­lassen.

Natürlich muss Charly derweil auch ihrem Beruf nachgehen. Ihr Arbeit­geber Wilhelm Böhm, Chef einer Privat­detek­tei, betraut sie mit einer lästigen Aufgabe, nämlich Beweise für die Untreue einer Ehefrau zu beschaf­fen. Daneben wird sie, obwohl längst nicht mehr im Polizei­dienst, indirekt in eine Mord­ermitt­lung hinein­gezogen. Ein SS-Offizier wurde getötet, und es stellt sich heraus, dass Greta wohl eine Beziehung mit ihm hatte. Aber ob sie ihn auch umge­bracht hat? Obwohl Indizien aus seinem Wagen eine andere Spur ins Spiel bringen, ahnt Charlotte, dass ihre Freundin in Schwierig­keiten steckt und sie ihr Bestes geben muss, um sie zu finden und ihre Unschuld zu beweisen. Inoffi­ziell kann Charly auf die Hilfe ihrer ehe­mali­gen Kollegen Andreas Langer und Reinhold Gräf zählen, aber auch die beiden stehen unter kriti­scher Beob­ach­tung der politi­schen Organe und ihrer Helfer.

Die eigentliche Aufklärung der Fälle, die Charly beschäf­tigen, ist nicht allzu komplex, aber Profi Volker Kutscher weiß sie mit zig uner­warte­ten Wen­dungen, Schau­plätzen (Kon­zen­trations­lager Sachsen­hausen) und Persön­lich­keiten (Göring in der Schorf­heide) zu würzen, was ge­legent­lich mehr ober­fläch­lichen Effekt erzeugt als zwingend motiviert wirkt.

Als der Handlungsgang nach gut dreihundert Seiten dann doch über den großen Teich schwenkt, erfahren wir immer noch nichts Zuver­lässi­ges über Gereon Raths Schicksal. Wohl aber, dass Johann Marlow, aus den Vor­gänger­romanen bekannter Unterwelt­boss, dort ein neues Imperium im Drogen­handel aufzu­bauen gedenkt. Im Umkreis begegnen uns drei starke Frauen wieder. Die erste ist Olympia Morgan, deren Mann Walter als US-Sport­funktio­när nach Berlin gereist und dort im Speise­saal des Olympi­schen Dorfes einer Herz­attacke erlegen war.

Die zweite ist Marion Goldstein. Sie war mit ihrem Mann, dem Heroin­händler Abraham Gold­stein, ebenfalls zur Olympiade nach Deutsch­land gekommen. Marlow hatte ihn beauf­tragt, General­oberst Göring auszu­schalten, doch während der das Attentat überlebte, fiel Abraham den Schüssen der SS-Wächter zum Opfer. Nun will Marion ihren Verlust gegenüber Marlow geltend machen.

Gräfin Sorokina ist die dritte charakter­volle Frau. Da die reiche russische Adlige die Passage im Zeppelin »Hinden­burg« gebucht hat (wenn auch unter falschem Namen), lesen wir, dass sie mit Gereon im Luxus-Luft­schiff den Atlantik überquert. Doch bis dahin hat uns der Autor schon so viele rätsel­hafte, wider­sprüch­liche Informa­tionen gesteckt, dass wir kaum noch wissen, was wir eigent­lich glauben können. Und wer die Vorge­schich­ten nicht kennt, wird vollends im Dunklen tappen.

Berlin ist im Jahr 1937 fest in den Krallen des braunen Regimes, aber von den kommenden Katastro­phen noch weit entfernt. An Krieg will niemand denken. Dank Hitlers Friedens­beteue­rungen nehmen die Sieger­mächte die klaren Brüche des Ver­sailler Vertrages (wie Aufrüs­tung und Besetzung des Rhein­lands) ohne Konse­quenzen hin, und so sorgt man im Reich ganz unver­brämt für den Ernst­fall vor, ordnet Verdunk­lung an und übt Flieger­alarm mit geord­netem Einzug in den Luft­schutz­keller.

Wie 1937 politisch eine Art Brücke war zwischen Hitlers rasantem, erfolg­reichem Aufstieg bis zum propa­gandis­tischen Triumph der Olympi­schen Sommer- und Winter­spiele 1936 einer­seits und den Jahren ab 1938 mit territo­rialer Expansion, aggres­siver Juden­verfol­gung und Kriegs­beginn anderer­seits, bleibt auch der neunte Rath-Roman trotz seines Umfangs ohne sonder­lich auf­wüh­lende, Richtung weisende Ereig­nisse. Er ist in sich erzähle­risch und atmos­phärisch nicht schwächer als der Rest der Reihe, aber im Gesamt­zusam­men­hang schwebt er ge­wisser­maßen auf der Stelle. Indem er Spuren legt, Andeu­tungen macht, Zweifel sät, Fragen aufwirft, Türen öffnet und wieder schließt, vibriert er in sich – und schürt die Span­nung, dass das nächste Buch all dies auflösen werde.

Volker Kutscher selbst hat ange­kündigt, dass der zehnte Band 1938 spielen und das Projekt ab­schlie­ßen werde, denn mit den No­vember­pogro­men habe Deutsch­land endgültig mit der Zivili­sation gebrochen.


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