Transatlantik
von Volker Kutscher
Im Frühjahr 1937 steht es schlecht um Charlotte Rath. Ihr Ehemann wurde erschossen, ihren Ex-Pflegesohn Fritze erwartet ein Gerichtsverfahren, ihre beste Freundin ist verschwunden, ihre Ausreisepläne zerschlagen sich, sie wird in eine Mordermittlung involviert. Für uns Leser nehmen die Rätsel überhand, selbst vermeintliche Gewissheiten geraten in Zweifel, und in Amerika scheint alles möglich.
Unsicheres Terrain
Die Reihe der »Rath-Romane« von Volker Kutscher gehört zu Recht zu den bedeutendsten der letzten fünfzehn Jahre. Ihr Erfolg beruht auf den spannenden Kriminalfällen, die Kommissar Gereon Rath zu lösen hat, aber wohl mehr noch auf dem sorgfältig recherchierten und historisch überzeugend gestalteten Setting im Berlin der späten Weimarer Republik und des Nationalsozialismus – eine Epoche, die zuvor von der Unterhaltungsliteratur eher ausgeklammert wurde. In diesen Jahren von politischer Brisanz sind alle Charaktere immer wieder mit Situationen konfrontiert, die gleichzeitig Vorteile versprechen, Gefahren bergen und unabsehbare Konsequenzen zeitigen können. Wir kennen die weitreichenden Folgen für Millionen Individuen und ganze Völker. So mag es von heute aus zurückblickend einfach zu beurteilen sein, ob ein einzelner persönlicher Schritt damals richtig oder falsch, klug oder töricht, freiwillig gewählt oder unausweichlich war – Volker Kutscher gelingt es, die Nöte seiner Figuren mitten in der jeweiligen Entscheidungssituation hautnah miterleben zu lassen.
Im Verlauf der bisherigen acht Bücher haben wir verfolgt, welch unterschiedliche Wege der Protagonist und eine ganze Reihe seiner Zeitgenossen eingeschlagen haben, so dass der treuen Leserschaft ein breites Spektrum der politischen und sozialen Stimmungen vermittelt wurde. Trotzdem konnten Neueinsteiger jeden Roman durchaus ohne Kenntnis der Vorgänger lesen. »Olympia«, der achte Band, endete offen mit einem sensationellen Cliffhanger. Am 6. Mai 1937 explodierte bei der Landung in Lakehurst, New Jersey, der legendäre Zeppelin »Hindenburg«. Dass Gereon Rath an Bord war, wussten wir Leser, nicht aber, ob er zu den 35 Überlebenden oder zu den über 60 Todesopfern des Infernos gehörte. Und falls er überlebt hatte, was würde nun aus ihm werden?
Anstatt unsere derart angestachelte Neugier zu stillen, dreht »Transatlantik« nun erst einmal eine Pirouette. Denn Gereons Ehefrau Charlotte (»Charly«) war nicht einmal bekannt, dass ihr Mann über den Atlantik fliegen würde. Offiziell hieß es, er sei erschossen worden und seine Leiche unauffindbar. So wird die ›Hinterbliebene‹ zunächst zur Protagonistin des neunten Bandes, und erst nach der Hälfte der Seiten hebt das berühmte Luftschiff mit dem Ziel Amerika ab.
Jetzt ist Charly also alleinstehend, und zusätzlich zur Trauer über Gereon lasten schwere Sorgen auf ihr. Ihr ehemaliger Pflegesohn Friedrich Thormann, genannt Fritze, sitzt in U-Haft, und ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Greta ist verschwunden.
Bei der Olympiade im Vorjahr war ein diffiziler Mord geschehen, dessen wahre Hintergründe vertuscht werden sollen. Fritzes damalige Zeugenaussage passt nicht ins offizielle Konzept. Deswegen soll ihm jetzt, im Frühjahr 1937, der Prozess gemacht werden, um ihn möglichst für den Rest seiner Tage hinter den Gittern einer Psychiatrie mundtot zu wissen. Doch es kommt anders: Ein angesehener Major bekennt sich zu seiner Vaterschaft für Fritze, der wird freigelassen und in die Obhut seiner früheren Pflegefamilie zurückgegeben. Die Rademachers sind linientreue Parteigenossen, und Fritze, selbst begeisterter Nazi, fügt sich mit vorbildlichem Verhalten in sein neues altes Leben ein.
Da dem Ehepaar Rath wegen politischer Unzuverlässigkeit die Erziehungsbefugnis für Fritze entzogen worden war, ist Charlotte der Umgang mit ihm untersagt, doch das hindert sie nicht, sich heimlich mit ihm zu treffen. Sie möchte ihn überzeugen, mit ihr nach Prag auszureisen. Doch Fritze erweist sich zu ihrem Entsetzen als strammer Anhänger der herrschenden Ideologie und sträubt sich vehement gegen ihr Vorhaben. Unter diesen Bedingungen muss sie ihre Fluchtpläne vorerst fallenlassen.
Natürlich muss Charly derweil auch ihrem Beruf nachgehen. Ihr Arbeitgeber Wilhelm Böhm, Chef einer Privatdetektei, betraut sie mit einer lästigen Aufgabe, nämlich Beweise für die Untreue einer Ehefrau zu beschaffen. Daneben wird sie, obwohl längst nicht mehr im Polizeidienst, indirekt in eine Mordermittlung hineingezogen. Ein SS-Offizier wurde getötet, und es stellt sich heraus, dass Greta wohl eine Beziehung mit ihm hatte. Aber ob sie ihn auch umgebracht hat? Obwohl Indizien aus seinem Wagen eine andere Spur ins Spiel bringen, ahnt Charlotte, dass ihre Freundin in Schwierigkeiten steckt und sie ihr Bestes geben muss, um sie zu finden und ihre Unschuld zu beweisen. Inoffiziell kann Charly auf die Hilfe ihrer ehemaligen Kollegen Andreas Langer und Reinhold Gräf zählen, aber auch die beiden stehen unter kritischer Beobachtung der politischen Organe und ihrer Helfer.
Die eigentliche Aufklärung der Fälle, die Charly beschäftigen, ist nicht allzu komplex, aber Profi Volker Kutscher weiß sie mit zig unerwarteten Wendungen, Schauplätzen (Konzentrationslager Sachsenhausen) und Persönlichkeiten (Göring in der Schorfheide) zu würzen, was gelegentlich mehr oberflächlichen Effekt erzeugt als zwingend motiviert wirkt.
Als der Handlungsgang nach gut dreihundert Seiten dann doch über den großen Teich schwenkt, erfahren wir immer noch nichts Zuverlässiges über Gereon Raths Schicksal. Wohl aber, dass Johann Marlow, aus den Vorgängerromanen bekannter Unterweltboss, dort ein neues Imperium im Drogenhandel aufzubauen gedenkt. Im Umkreis begegnen uns drei starke Frauen wieder. Die erste ist Olympia Morgan, deren Mann Walter als US-Sportfunktionär nach Berlin gereist und dort im Speisesaal des Olympischen Dorfes einer Herzattacke erlegen war.
Die zweite ist Marion Goldstein. Sie war mit ihrem Mann, dem Heroinhändler Abraham Goldstein, ebenfalls zur Olympiade nach Deutschland gekommen. Marlow hatte ihn beauftragt, Generaloberst Göring auszuschalten, doch während der das Attentat überlebte, fiel Abraham den Schüssen der SS-Wächter zum Opfer. Nun will Marion ihren Verlust gegenüber Marlow geltend machen.
Gräfin Sorokina ist die dritte charaktervolle Frau. Da die reiche russische Adlige die Passage im Zeppelin »Hindenburg« gebucht hat (wenn auch unter falschem Namen), lesen wir, dass sie mit Gereon im Luxus-Luftschiff den Atlantik überquert. Doch bis dahin hat uns der Autor schon so viele rätselhafte, widersprüchliche Informationen gesteckt, dass wir kaum noch wissen, was wir eigentlich glauben können. Und wer die Vorgeschichten nicht kennt, wird vollends im Dunklen tappen.
Berlin ist im Jahr 1937 fest in den Krallen des braunen Regimes, aber von den kommenden Katastrophen noch weit entfernt. An Krieg will niemand denken. Dank Hitlers Friedensbeteuerungen nehmen die Siegermächte die klaren Brüche des Versailler Vertrages (wie Aufrüstung und Besetzung des Rheinlands) ohne Konsequenzen hin, und so sorgt man im Reich ganz unverbrämt für den Ernstfall vor, ordnet Verdunklung an und übt Fliegeralarm mit geordnetem Einzug in den Luftschutzkeller.
Wie 1937 politisch eine Art Brücke war zwischen Hitlers rasantem, erfolgreichem Aufstieg bis zum propagandistischen Triumph der Olympischen Sommer- und Winterspiele 1936 einerseits und den Jahren ab 1938 mit territorialer Expansion, aggressiver Judenverfolgung und Kriegsbeginn andererseits, bleibt auch der neunte Rath-Roman trotz seines Umfangs ohne sonderlich aufwühlende, Richtung weisende Ereignisse. Er ist in sich erzählerisch und atmosphärisch nicht schwächer als der Rest der Reihe, aber im Gesamtzusammenhang schwebt er gewissermaßen auf der Stelle. Indem er Spuren legt, Andeutungen macht, Zweifel sät, Fragen aufwirft, Türen öffnet und wieder schließt, vibriert er in sich – und schürt die Spannung, dass das nächste Buch all dies auflösen werde.
Volker Kutscher selbst hat angekündigt, dass der zehnte Band 1938 spielen und das Projekt abschließen werde, denn mit den Novemberpogromen habe Deutschland endgültig mit der Zivilisation gebrochen.