Ein berauschender Tanz der Masken
Am Ende dieser atemberaubenden Geschichte werden wir ziemlich verwirrt und ohne einfache Lösung entlassen. Nichts ist mehr so, wie es zu Beginn der vielen Handlungsfäden schien. Im Verlauf der kurzen, aber umwerfend spannenden Texteinheiten, in denen der Autor unser Kopfkino durcheinanderwirbelt, haben wir vieles für bare Münze, die einzig mögliche Wahrheit genommen, nur um später feststellen zu müssen, dass die Dinge ganz anders liegen.
Die Auftaktgeschichte taucht uns mitten hinein in das turbulente Weinfest, das im August 1995 wie in jedem Jahr das Städtchen Parras (im Süden Mexikos) elektrisiert. Alles, was Beine hat, findet sich ein, um unter freiem Himmel zu essen, zu trinken und zu tanzen, während die hübschen Mädchen in ihren gestickten Kleidern die Trauben in Kisten und Körben zu Most stampfen. Fliegende Händler bieten derweil alles Mögliche feil, »Heiligenbildchen, Rosenkränze und Kruzifixe« und allerlei billigen Ramsch.
Die Hauptattraktion ist in diesem Jahr freilich Padilla, der Zauberer aus dem Orient, dessen Revue das Publikum in Staunen versetzt. Die Spannung erreicht regelmäßig ihren Höhepunkt, wenn der Spitzenstar der Show auftritt. Obwohl man ihn mit Ketten, Seilen und Schlössern verzurrt, vermag er sich doch auf unbegreifliche Weise aus seiner wirren, scheinbar ausweglosen Zwangslage zu befreien. Doch eines Tages geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Vor aller Augen versenkt der strahlende Moderator seinen hoffnungslos verschnürten Entfesselungskünstler in einem Wasserbottich und verschließt den Deckel. Das Scheinwerferlicht verlischt, und alle erwarten, dass der Künstler gleich befreit im Rampenlicht auftaucht und den Jubel des Publikums genießt. Doch nichts dergleichen geschieht ...
Sechs Jahre später begegnen wir dem großen Zauberer Padilla wieder, und erneut geht etwas schief. Ganz Torreón ist wegen eines Fußballturniers in Aufruhr. Nach bösen Erfahrungen der Vergangenheit hat die Polizei gelernt, aufgerüstet und Vorkehrungen für alle erdenklichen Eskapaden des tobenden Straßenmobs getroffen. In der Kneipe »Zum letzten Schluck« sind alle auf den Fernsehbildschirm fixiert, niemand beachtet den weiß gewandeten Padilla, allenfalls der Wirt (»das muss ein Priester sein«). Während der Spielverlängerung entdeckt ein Student beim Toilettengang das erbarmungswürdig zugerichtete Opfer eines Mordes. Sein Kopf steckt in einer Plastiktüte, die Handgelenke sind an ein Rohr gefesselt, der Körper liegt in Blut und Urin. Der Erdrosselte wird als Farid Sabag identifiziert. Polizeichef Woo kann erst ermitteln, nachdem sich der aggressive Fußballirrsinn gelegt hat, doch die Aussagen der Lokalgäste sind zu vage, um Aufschlüsse zu geben, und so legt er den Fall bald zu den Akten. Schließlich wird Remo Ayala, Sohn eines Richters, der Tat angeklagt, verurteilt und für Jahre inhaftiert, obwohl er stets auf seine Unschuld pocht.
Persönlich betroffen von diesem Mordfall und den tragischen Ereignissen danach, ja moralisch schuldig daran, fühlt sich der Therapeut Doktor Albores, eine der Erzählstimmen. Er wird später seinen Beruf aufgeben, um die kaum aufzudröselnden Vorgänge der Vergangenheit niederzuschreiben. Doch wird es ihm nicht gelingen, sich Klarheit zu verschaffen. Was bleibt, ist »ein großes Puzzle, dessen Teile nie ganz zusammenpassen«.
Remo Ayala erschien im September 1995 zur ersten Therapiesitzung bei ihm. Mit seinem äußerlich identischen Zwillingsbruder Rómulo hatte er ein Jesuiten-Internat besucht, bis die beiden nach einer »Dreiecksbeziehung mit tragischem Ausgang« flüchteten. Eine Zeitlang tingelten sie dann als Hilfskräfte des »großen Padilla« durch die Dörfer. Aber am Ende verschlechterte sich das Verhältnis der Brüder zueinander. Lag das möglicherweise an der sechs Jahre älteren Magda und ihren undurchsichtigen Beziehungen? Vielleicht hatte sie etwas mit dem Zauberer, machte Rómulo schöne Augen, ließ ihn dann aber abblitzen.
Verflochten mit Doktor Albores' intensiven Recherchen, die uns Briefe der Brüder, Sitzungsaufzeichnungen und Zeugenaussagen präsentieren, erfahren wir vom Treiben des ehemaligen Sportreporters Pepe Zamora. Er interessiert sich für die Geschichte der jungen Waisen Niña, die Wunderheilungen vollbracht und mit ihren Vorhersagen Schreckliches verhindert haben soll. Seit vier Monaten ist Pepe im Wein- und Spiritistenland Parras unterwegs auf ihren Spuren. Doch wo immer er den Einheimischen sein Mikrofon hinhält, hört er »Geschichten von Tod und Auferstehung, von Angst und Glauben«, wie er sie schon aus uralten Historiker- und Jesuiten-Chroniken kennt – als hätte sich seit Jahrhunderten nichts verändert. Über Niña raunt man, sie sei mit einem großen Zauberer und einem Zwillingspaar auf Jahrmärkten und Dorffesten zu sehen gewesen, doch sei ihr »seit jeher der Tod auf den Fersen«, und möglicherweise sei sie längst von »El Borrado« verschleppt und vergraben worden ...
Vicente Alfonsos »Huesos de San Lorenzo« ist ein ungewöhnlicher, wenn nicht einzigartiger Kriminalroman. Peu à peu verwickelt uns der Autor (von Peter Kultzen übersetzt) in eine komplexe, schwer durchschaubare Handlung, zaubert auf jeder Seite wieder neue, nie für möglich gehaltene Details und Überraschungen auf den Tisch. Wir ziehen nach, rekonstruieren für uns ein einigermaßen stimmiges Gesamtbild der Fakten, bringen die gültige Wahrheit auf den neuesten Stand, da lüftet der Magier erneut das Tuch, und alles entpuppt sich als Illusion. Was uns als Realität vorgegaukelt wird, ist nur ein Zerrspiegel mit tausend Facetten. Das Erstaunliche ist, dass wir am Ende über ausgebliebene Eindeutigkeiten nicht etwa frustriert, sondern gerade davon fasziniert sind, wie der (bereits mit etlichen Preisen bedachte) Autor mit fantastischen erzählerischen Effekten ein kunstvolles Verwirrspiel um immer neu auszulotende Identitäten treibt. Meisterlich gelingt ihm außerdem die Schilderung des prallen mexikanischen Lebens.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2017 aufgenommen.