Ohne Illusionen
Am 24. Juni 1987 wird Alfredo beerdigt. Als Beatrice die volle Kirche betritt und mit einer Sonnenblume in der Hand nach vorn zum Sarg schreitet, folgen ihr alle Blicke. Sie legt die Blume ab, küsst das Holz dort, wo Alfredos Kopf liegen muss, nimmt in der vordersten Bankreihe Platz und verfolgt reglos die Totenmesse.
Doch Don Antonios Worte über den »guten Jungen«, den der Herr mit nur einundzwanzig Jahren zu sich gerufen habe, »weil er ihn besonders liebt«, lassen sie innerlich rasen vor Wut. Alfredo war »nicht gut«, er war ein »Schlägertyp« und ein »Idiot«. Niemand hat ihn geliebt. »Denn wenn du jemanden hast, der dich liebt, ist es unmöglich, allein wie ein Hund zu verrecken.«
Beatrice ist fertig, »nur halb lebendig«. Sie will jetzt weg von diesem Ort, wo Alfredo und sie gelebt haben, so weit wie möglich, alle Brücken abbrechen, alles vergessen und nie wieder zurückkommen.
»La Fortezza«, die Festung, heißt der unsägliche Ort am Rande einer Stadt irgendwo im Süden Italiens, den Beatrice hinter sich lassen will. Kein Carabiniere kommt in dieses Viertel, in dem das Chaos regiert. Hier gibt es keine Mieter oder verwaltete Einwohner, sondern nur »Besetzer«. Man nimmt einfach eine der leer stehenden Wohnungen in Besitz – oder auch eine bereits besetzte. Schnell ist das Schloss aufgebrochen, das Mobiliar und alles andere Zeug vom Balkon geworfen, und die neuen Besetzer können sich breit machen. Auch Beatrices Familie zog, als sie vor vielen Jahren hierher kam, auf diese Weise ein, und während Mutter Elena putzen ging und Vater Vittorio als Parkplatzwächter Geld verdiente, musste »Bea« zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Francesco die Wohnung bewachen.
Trotz Lärm, Gestank, Dreck und Regellosigkeit in den verkommenen, dunklen Straßen und verwahrlosten Häusern ist »La Fortezza« noch nicht das untere Ende der Elendsleiter. »Die wirklich Armen« hausen am Flussufer in Wellblechhütten, wo man seine Notdurft im Wasser verrichtet oder dafür Löcher in den Boden gräbt. Einer von denen da unten war bis vor dreizehn Jahren der Witwer Pietro mit seinen Söhnen Andrea, Alfredo und Massimiliano. Eines Nachts zogen sie herauf nach »La Fortezza« und nahmen eine Wohnung im fünften Stock in Beschlag. An ihre Tür wagte niemand zu klopfen. Der Vater – »groß ... hager ... immer dieselben Klamotten ... Gestank von Schweiß ... Alkoholfahne« – ließ die Jungen in der Wohnung oft allein; wenn er Tage später wiederkehrte, prügelte er sie im Rausch halb tot. Ihre unerträglichen Schmerzensschreie weckten die Bewohner des Hauses.
Bea, damals acht Jahre alt, folgte ihren Eltern, als sie nach oben liefen. Sie fanden Alfredo wimmernd im Treppenhaus, zwei Vorderzähne fehlten, das Gesicht eine Maske aus Blut, ein Auge zugequollen, das andere starrte zu dem weinenden Mädchen. Die Eltern nahmen ihn auf und umhegten ihn wie ihre eigenen Kinder. Von diesem Moment an wurde Alfredo zu Beas Bruder.
Doch ihre Verbindung ist zwiespältig. Einerseits sind sie ähnlich in ihrem Äußeren und Gehabe: »synchron lässiger Gang ... gleicher Gesichtsausdruck ... gleiche Gesten«. Die anderen Kinder nennen sie »die Zwillinge«, lachen, klatschen, singen hänselnd den Hochzeitsmarsch. In der Tat sind sie unzertrennlich, schlafen sogar im selben Bett.
Andererseits sind sie in ihrem Wesen grundverschieden. Bea ist die »tragende Säule«, ehrgeizig und herrisch, und sie ärgert sich, dass Alfredo so willenlos, faul und lethargisch ist. Er kann kaum lesen und rechnen und wirft früh die Schule hin. Sie streiten und balgen wie die Katzen; später ohrfeigt und tritt Bea den Jungen. Wenn er sich wehrt, tut er das so dosiert, dass er ihr nicht wehtut.
Es ist eine ungleiche Art von Liebe, die sie verbindet. Alfredo »konnte bedingungslos lieben ... wie ein Hund«, während Bea ihn besitzen, beherrschen will. Sie hasst alle, die ihr Alfredo wegnehmen könnten, Freunde, Mädchen, insbesondere den gewalttätigen Vater, den Alfredo trotz allem uneingeschränkt liebt. Sie begreift nicht, dass sie ihm wehtut, wenn sie ihm ihren Willen aufzwingt. »Ich verstand nicht, dass er vor mir fliehen wollte, dass er vor sich selbst fliehen wollte. Dass er es war, der etwas anderes suchte.« Als Alfredo eine sexuelle Beziehung mit einem anderen Mädchen eingeht, beäugt er mit kaum unterdrückter Aggression, mit wem Bea Umgang hat. So sind die beiden Jugendlichen wie zwei Metallkugeln, die auf einander zu schwingen, gegeneinanderprallen und sich mit unverminderter Energie wieder voneinander entfernen.
Zu einer entscheidenden Wende kommt es, als der ältere Bruder Massimiliano auf unbeschreiblich brutale Weise den Vater Pietro ermordet – ein Akt der seelischen Befreiung. Aber Alfredo verliert den Boden unter den Füßen, wird heroinabhängig. Obwohl Bea ihren Job in einem Lebensmittelgeschäft aufgibt, um ihn rund um die Uhr zu betreuen, und er so zeitweise seine Sucht besiegt, kann sie seinen Untergang nicht aufhalten. Bei seiner Beerdigung bringt sie ihr Dilemma auf den Punkt: »Ich konnte diesen Alfredo nicht ausstehen ... und ich hatte ihn lieb, mehr als ich je gedacht hätte.«
Die erst dreißigjährige italienische Autorin Valentina D'Urbano hat mit »Il rumore dei tuoi passi« (Übersetzung: Constanze Neumann) einen Roman vorgelegt, der die Perspektivlosigkeit des Lebens in sozialen Brennpunkten des italienischen Südens ohne jede Schonung illustriert. In desolaten Vorstadt-Ghettos sind dort Hunderttausende ohne jede Aussicht auf ehrliche Arbeit oder geregeltes Einkommen räumlich abgeschottet von den intakteren Kreisen der Gesellschaft. Die Autorin hat die Handlung in die »Bleiernen Jahre« (die Siebziger und frühen Achtziger) gelegt, als der politische Terror das Land lähmte; viele Missstände findet man indes kaum verändert noch heute.
D'Urbano verwebt ihre deprimierende Schilderung sozialer Umstände mit der nicht weniger hoffnungslosen Geschichte einer schwierigen Beziehung zwischen zwei inkompatiblen jungen Menschen aus eben diesem Milieu. Dort sind sie im Grunde völlig auf sich allein gestellt; keine Rechtsordnung, kein Wertesystem kann ihnen Orientierung, Zuversicht oder Hilfe geben. Die einzige Institution, die sich ihrer annimmt, ist die Kirche. Ich-Erzählerin Beatrice, die einzige Figur, die den Ausstieg schafft, ist ein starker Charakter, aber ihre Chance und ihr Glück verdankt sie dem vorurteilsfreien Pastor und seinem unermüdlichen Einsatz. Er hat es ihr ermöglicht, an einer Jugendreise an die Adria teilzunehmen; dort lernte sie die Freundin aus Bologna kennen, zu der sie schließlich ziehen wird.
Valentina D’Urbano hat einen sozialkritischen Realismus fern jeder Melodramatik gestaltet. Ihr Erzählstil ist frisch, direkt, schnörkellos, die Dialoge treffen den Jargon der jungen Menschen. Das hat dem Buch großen Erfolg in Italien und im Ausland gebracht. Auch der neueste Roman der Autorin (»Quella vita che ci manca« , September 2014) spielt in »La Fortezza«.