Die Schatten des Reigens
Ungern kommt Mauro Nesta in das kleine Schweizer Städtchen, wo seine 72-jährige Mutter in einem Pflegeheim lebt. Sie ist an Alzheimer erkrankt. Zuletzt war er vor zwei Jahren da; jetzt muss er erneut anreisen, denn ihre Dachgeschosswohnung muss aufgelöst werden. Als Mauro aus dem Zug von Genua steigt und durch den Ort schlendert, sind die Vorbereitungen für das traditionelle Jugendfest auf vollen Touren. Seit mehr als 400 Jahren wird es alljährlich unverändert abgehalten: Genaue Vorschriften regeln, wie die Männer in Uniformen, die Frauen mit Haarband und weißen Kleidern zu erscheinen haben, wie Kränze gewunden werden, wie der Tambouren-Rutenzug verlaufen und wie auf dem Tanzboden getanzt werden muss. Das wichtigste Ritual ist das Tauschen von Granatblüte und Eichblatt. Vor Jahren, in den Fünfzigern, als seine Mutter noch jung war, galt dies als Verlobungsversprechen. Mauro aber, 1965 als Sohn eines Italieners und einer Schweizerin geboren, war ein "Tschingge", und mit so einem ewigen Außenseiter wollte kein Mädchen etwas zu tun haben. Jedes Jahr tat er so, als habe er ein Blatt zu tauschen, doch seine Klassenkameraden durchschauten den Schwindel und ließen ihn bitter büßen. All diese düsteren Erinnerungen suchen ihn hier heim und beschweren ihm den Gang zu seiner Mutter zusätzlich.
Dass es Helen inzwischen so schlecht gehen würde, dass sie ihren eigenen Sohn nicht mehr erkennt, damit hat Mauro nicht gerechnet. Unerwarteterweise kann er sich also jetzt nicht mehr mit ihr austauschen. Dabei wäre das bitternötig, um manche Absurdität, die ihn nun erwartet, zu klären. Als er sein ehemaliges Kinderzimmer betritt, traut er seinen Augen nicht: Mitten im Raum steht ein drei Meter langes Boot aus Rindenstückchen, und Dutzende kleiner Schildkröten, aus Flusskieseln gebastelt, schmücken Kommode, Nachttisch, seinen alten Schreibtisch und die Fensterbank. Und was bedeutet der Satz "Der Tag, an dem der Regen kam", der da auf Pappe geschrieben und mit Reißzwecken an die Wand gepinnt ist?
Peu à peu nähert sich Mauro dem Geheimnis, das sich hinter dem bedeutungsschwangeren Satz verbirgt. Fünfzig Jahre lang hat seine Mutter unter einer enttäuschten großen Liebe gelitten. In der Isolation ihrer akuten Krankheit ist es allein die Sehnsucht, den Mann ihres Lebens noch einmal wiederzusehen, die ihrer Lebensphase noch einen Sinn zu geben scheint. Was in ihr vorgehen mag, wird uns in kursiv abgesetzten Textpassagen in der Ich-Form mitgeteilt. Oft wirken sie wirr, assoziativ, bruchstückhaft, unverständlich, und doch setzt sich daraus zusammen, was im Leben dieser Frau wichtig war.
Mauro nimmt seine Mutter mit in die Stadt, führt sie zu altbekannten Plätzen, und sie erinnert sich. Auf dem Tanzboden bricht ihre gläserne Gesichtsmaske auf, sie lächelt. Ganz in Gedanken, beseelt, tanzt sie allein, hebt dabei ihre Hand an, als lege sie sie auf die Schulter eines imaginären Gegenübers. Sie tanzt in ihrer Vergangenheit.
Urs Augstburgers Roman bewegt sich auf drei Handlungsebenen:
Die von uns allen gefürchtete Volkskrankheit Demenz wird hier ganz anders thematisiert als etwa in Arno Geigers Bestseller "Der alte König in seinem Exil". Helen hat die Welt bereits verlassen und sich in ihr eigenes Reich zurückgezogen. Die tatsächliche Kommunikation mit ihrem Sohn ist spärlich und für ihn schwer zu deuten. Nur über die separaten Textstücke öffnet der Autor ihr Innerstes und legt uns nahe, dass da noch sehr viel geschieht. Wenngleich die alte Dame vor allem in diesen Phasen außerhalb der eigentlichen Erzählung, in ihren eigenen Gedanken also, Leben gewinnt, so gerät sie durch diesen erzählerischen Trick doch auch zu einer abstrakten poetischen Kunstfigur.
"Die Kleinstadt in uns allen": Auf drastische Weise prangert der Autor spießiges Kleinbürgertum an, entlarvt Engstirnigkeit, Vorurteile gegen Andersdenkende, Moralismus, Fremdenhass. Wer nicht genau ins Raster passt, wird brutal hinausgedrängt, hat sogar sein Leben verspielt. Ganz besonders unbarmherzig bestraft wird Abweichlertum bei einem, der doch in den innersten Zirkel gehört, diesen aber ablehnt und sich davon absetzt. Das bekommt Helen zu spüren, die im gutsituierten Bürgeradel geboren wurde und dann gegen die Konventionen verstößt. Das in der Folge versprühte Gift quält noch die nächste Generation, den gänzlich unschuldig in diese brisante Gemengelage hineingeborenen Sohn Mauro. Wie viele andere wird er die Kleinstadt fluchtartig verlassen, nie verwinden, was ihm hier zugefügt wurde, so beschädigt bleiben, dass er sein Glück nicht finden wird.
Das traditionelle Jugendfest in Brugg, dem Geburtsort des Autors, ist die dritte Handlungsschiene, die den Roman nicht nur inhaltlich durchzieht, sondern auch strukturiert. Augstburger hat dazu einen wunderbaren, bittersüß-melancholischen "Jugendfestreigen" aus 15 vierzeiligen Strophen gedichtet. Die erste Zeile jeder Strophe wiederholt jeweils die letzte der vorangegangenen, wodurch ein feierlicher Rundtanz entsteht, der mit der letzten Zeile wieder zur allerersten zurückführt. Das Gedicht soll volkstümlich wirken, als stamme es tatsächlich aus alter Zeit - die Zeilen sind nicht genau gleich lang, der Rhythmus holpert oft. Doch neben erlesenen Metaphern und ästhetischer Wortwahl lassen vor allem ominöse Andeutungen ahnen, dass es ganz sicher nicht zu fröhlichem Anlass gesungen und getanzt wurde, sondern vielmehr ein kunstvolles Stilelement des Autors ist, um die düstere Kehrseite des real heiteren Jugendfestes aufzudecken: "einer scheut das Licht" - "einer geht zu weit" - "einer muss weichen" - "morgen sind wir verloren" ... Der Sündenfall ist im Reigen bereits institutionalisiert. Jedem der 15 Romankapitel ist eine der Strophen vorangestellt und verweist auf den Handlungskern.
Wo man als Besucher Schweizer Idylle, wahres Heimatgefühl, moralische Integrität und gesunden Konservativismus ("das Bewährte bewahren") zu finden erhofft bzw. als Einheimischer beschwört, enthüllt Urs Augstburger ein Geflecht aus Betrug, Verrat, Lüge, Vorurteil und Rassismus, das Leben zerstören kann. Unsicherheit und Angst haben es verfestigt. Parallel dazu fügt er die Fragmente des Melodrams um Helens Liebe zusammen - zu einer Wahrheit, die Helen selbst verborgen blieb: eine Täuschung, der sie ihr Leben lang aufgesessen ist.
Während wir lesen, wachsen uns die Figuren mehr und mehr ans Herz, ihre ehrlichen Offenbarungen erschüttern uns. Die Grundstimmung ist - wie im leitmotivischen "Jugendfestreigen" - melancholisch und bedrückend. "Als der Regen kam" ist ein berührender Heimat- und Liebesroman; die Rutenschläge schmerzen auf der Haut, der Marschklang der Tambouren hallt lange nach.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2013 aufgenommen.