Per Anhalter nach Bethlehem
So fantasievoll und so überraschend variiert habe ich die Weihnachtsgeschichte noch nicht gelesen. Ulrich Knellwolf hat gleich mehrere Fassungen davon kreiert – zwischen zwei und einem Dutzend Seiten lang – und in dem Bändchen »Gott baut um« versammelt. Sie sind heiter und besinnlich, theologisch reizvoll, inspirieren unsere Vorstellungskraft und erwärmen das Herz. Man kann tatsächlich die eine oder andere am Heiligen Abend im Familienkreis vorlesen und darf damit rechnen, allen anwesenden Generationen eine Freude zu bereiten. Das Buch erzählt das Weihnachtsevangelium, die »frohe Botschaft« von Christi Geburt, für Menschen von heute.
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In seinen Variationen widmet sich der Autor jeweils einigen Protagonisten oder Nebenfiguren, gibt ihnen eine Vorgeschichte, einen Charakter, eine Perspektive. Zwar belässt er sie in ihrer Zeit, aber durch die ›Vermenschlichung‹ rückt er sie näher an uns heran. Dadurch werden uns Sachverhalte bewusst, die uns eigentlich gar nicht überraschen dürften, so offensichtlich sind sie. Doch nach den Jahrhunderten frommer Verehrung sind diese Figuren erstarrt, ihre Fleischlichkeit wurde überdeckt, ausradiert, teilweise tabuisiert, so dass sie in der Vorstellung der meisten von uns nur noch als hohle Gipsfiguren mit starr verklärtem Blick oder als Buhmänner (Herodes) existieren.
Knellwolf erinnert uns daran, dass Joseph ein ganz normaler »Bursche aus Nazareth« war, der auf ein Mädchen »aus zweifelhafteren Verhältnissen … sein Auge geworfen hatte«. »Wir können’s uns kaum jung genug vorstellen, jedenfalls weit unter unserem gesetzlichen Heiratsalter.« Als sie ihm steckt, dass sie ein Kind erwarte, tut er erstaunt; kann er sich vielleicht »ungeschoren aus der Affäre ziehen«? Immerhin – »das Kind könnte ja auch von einem anderen sein«… Doch dann nehmen die betroffenen Familien mit handfesten Interessen diplomatische Verhandlungen auf, um eine Ehe zu arrangieren. Das strapaziert die Geduld der jungen Leute zu sehr. Sie beschließen, anlässlich der anstehenden Volkszählung gemeinsam nach Bethlehem durchzubrennen, dort zu heiraten und die später eintreffende Familie vor vollendete Tatsachen zu stellen.
In einem anderen Gedankenspiel arbeiten die beiden als Gastarbeiter im edlen King David Hotel in Bethlehem. Maria ist Zimmermädchen und Joseph der Mann fürs Grobe. Erst munkelt man nur, doch bald ist es nicht mehr zu übersehen: Die junge Frau ist schwanger. »Nimm dein Mädchen und verschwinde«, sagt der Hotelmanager. »Wir sind ein seriöses Haus.« In der Tat kann man gerade »solche Geschichten nicht brauchen«, schließlich ist man auf hohen Besuch vorbereitet. Jeden Morgen rollt man den frisch gereinigten roten Teppich aus, denn täglich kann der Messias eintreffen, um sich registrieren zu lassen.
In einer modernen Version trampen Joseph und Maria zu ihrem Ziel. Sie werden mitgenommen von drei Wissenschaftlern, die in Jerusalem an einem Theologen-Kongress teilnehmen und ihren freien Nachmittag für eine Sightseeingtour nach Bethlehem nutzen.
Maria als blutjunges geschwängertes »Liebchen«, Dienstmädchen und Tramperin – wie ketzerisch ist das denn? Und der Autor (Theologe und Schriftsteller) schreckt nicht einmal vor der allerhöchsten Instanz zurück. In zwei Erzählungen spielt Gottvater höchstselbst die Hauptrolle. Die eine befasst sich mit seinen Schwierigkeiten, »Vater« zu werden; die andere berichtet, wie der gute alte Mann sich im Himmel langweilt. Seine Schöpfung enttäuscht ihn; die Menschen zanken fortwährend, missachten die Gesetze oder überschätzen sich, richten jedenfalls ständig Unheil an, und er muss es dann wieder richten. Zufällig entdeckt er in Galiläa ein verliebtes Pärchen – aber auch deren Schicksal lässt ihn verzweifeln: Wegen unterschiedlicher sozialer, religiöser und Migrationshintergründe geben sie ihrer Liebe keine Zukunft und sind drauf und dran, sich zu trennen. Dass die menschlichen Gesetze offensichtlich stärker als die Liebe sind, bringt Gott ins Grübeln. Und er fasst den Vorsatz, die Welt so umzubauen, dass die Liebe das Zusammenleben der Menschen bestimmt. In einem ersten Schritt führt er die beiden jungen Leute zusammen, lässt sie heimlich heiraten, und als Maria in Bethlehem ein Kind gebärt, beschließt er: »Dieses Kind soll mein Botschafter der Liebe für die Welt werden.« Wenn Gottes Umbauwerk einst fertig ist, wird er seinen Wohnsitz »in der Welt mitten unter uns« nehmen; dann wird »die Welt der Himmel sein«.
So provokant (oder eben ›ketzerisch‹) die biblischen Personen auch geerdet werden – ihre Vermenschlichung hat System. Alle Geschichten haben eine gemeinsame Tendenz. Ihnen liegt die Zuversicht zugrunde, die Knellwolf aus der neutestamentarischen Geschichte ableitet. In der »Spannung, dass der König und Bringer des Heils nicht in einem Palast, sondern in einem Stall … inmitten von gewöhnlichem Volk geboren wird«, dass Gott also zu den Menschen herabsteigt, erkennt der Autor: Da »leuchtet für einen Augenblick die Ahnung einer neuen Welt auf«; zwischen den Extremen »König in der Krippe« und »König am Kreuz« verpflichtet sich Gott »als Schöpfer der werdenden vollkommenen Welt«. In jener Welt wird Menschlichkeit herrschen, und die Protagonisten aller seiner Erzählungen erweisen sich als eben dies: gute Menschen. Wie Knellwolf diesen Begriff konkret füllt (gar nicht utopisch), erliest man sich von Text zu Text.
Knellwolfs Erzählungen um das Geschehen in Galiläa werden ergänzt durch weihnachtliche Anekdoten um große Komponisten sowie aus seinem eigenen Pfarrerdasein; einige ›freie‹ Erzählungen spielen in unserer Zeit, etwa die eines Einbrechers, den die Familie am Heiligen Abend auf frischer Tat ertappt.
Kein Zweifel: Die Botschaft des Weihnachtsevangeliums ist mächtig. Sie vermag weite Teile der Welt für ein paar Tage in eine feierlichere, friedlichere zu verwandeln, selbst wenn sie danach wieder in ihren üblichen Zustand fern aller Perfektion zurückfällt. In der vorletzten Erzählung konkretisiert Knellwolf die politische Dimension. Am Heiligen Abend 1989 erhält er einen Anruf aus Kronstadt in Siebenbürgen; im Hintergrund hört man Schüsse. Im Aufstand gegen das Regime des Diktators Nicolae Ceausescu kämpfen Kirchengemeinden und Pfarrer an der Seite der Demonstranten; feste Kirchenbauten, Glocken und Bachs Weihnachtsoratorium stehen im Dienste von »Gottes Revolution gegen Unterdrückung, Unrecht, Elend und Tod«. Für Rumänien war Weihnachten 1989 weder still noch heilig, aber »es schlug eine ›rettende Stund‹«: Ceausescu wurde verhaftet und hingerichtet.
Man muss nicht an Gott glauben, um »Gott baut um« lesenswert zu finden. Einen gewissen pastoralen Tonfall kann man einem Geistlichen nicht übelnehmen, aber meist herrscht der wohltuend leichte, gepflegte, bisweilen amüsante Alltagsstil des Schriftstellers Knellwolf vor. Eine anregende Lektüre voller Tiefgang.