Das Knistern unter der Oberfläche
Alle Bewohner von Örar sind in Aufruhr. Selbst »die Landschaft liegt nicht mehr still da«, wenn das Postschiff die Hafenbucht der Schäreninsel ansteuert und an der Mole festmacht. Denn dann bringt Anton Briefe, Zeitungen und Nachrichten vom Festland und den vielen anderen Inseln.
Heute hat er sogar Passagiere an Bord, und ganz besondere dazu: Petter Kümmel, den neuen Pastor, mit seiner Frau Mona und dem Töchterchen Sanna. Erwartungsvoll hat Petter an Deck gestanden, »seine Kirche den Felsen hinaufsteigen und mit ihrem roten Dach herübergrüßen« sehen, und jetzt blickt er auf begeisterte Menschen, die ihm »Willkommen« zurufen. Im Pfarrhaus sind Kachelöfen und Herd schon angeheizt, und eine warme Mahlzeit ist vorbereitet. Der Pastor strahlt gute Laune aus, nicht nur ob der herzlichen Gastfreundlichkeit seiner neuen Gemeinde. Fröhlichkeit ist sein Naturell, und außerdem brennt in ihm das Feuer »von allem, was er in seinem Leben noch erreichen und erleben will«.
Das offizielle kirchliche Empfangskomitee, allen voran Adele Bergman vom Kirchenvorstand, der Kantor, der Küster und seine Frau Signe, ist zuversichtlich: »Mit dem wird es gut gehen.« Auch Anton stellt zufrieden fest: »Der erste Eindruck ist günstig.« Doch impliziert der vage Satz nicht auch eine Wendung zum Negativen? Anton hat die Gabe des »zweiten Gesichts«, er versteht die Zeichen der »Letesgubbar«, in Leder gekleideter mythischer Gestalten, die »schon alt [waren], als Jesus noch jung war«, und ihm ist nicht entgangen, dass das Boot, als der Pfarrer an Land gehen wollte, ein kleines Stück vom Steg weg scherte, »so als ob die See ihn zurückholen wolle« ...
»Is«, der Roman der schwedischen Autorin Ulla-Lena Lundberg (Karl-Ludwig Wetzig hat ihn übersetzt), nimmt seinen Anfang im Jahre 1947. Der Krieg ist vorüber, aber noch immer lebt die Bevölkerung eher schlecht als recht. Im einzigen Genossenschaftsladen von Örar kann zwar wieder frei eingekauft werden, seitdem die Rationierung aufgehoben wurde. Doch das geringe Warenangebot (Mehl, Salz, Haferflocken, Erbsen, Eipulver und dergleichen) ist immer gleich ausverkauft. Den Laden führt Adele Bergman mit starker Hand. Agil und dominant hat sie nicht nur im Kirchenvorstand das Sagen; »sie thront da wie ein höheres Wesen, zu dem alle aufblicken«. Die Pfarrersfamilie braucht sich freilich keine Sorgen zu machen, denn Adele stellt ihr vorsorglich einen kleinen Proviant zur Seite. Ohnehin sind »Pastors ... fein raus« mit ihrer Viehhaltung, zwei mageren Kühen, drei Schafen und dem zur Pfarre gehörigen Weideland auf der höher gelegenen saftigen Kirchinsel. Da kann mancher schon neidisch werden.
Dergleichen Knistern unter der harmonischen Oberfläche seiner Gemeinde lässt der Pfarrer gar nicht erst an sich herankommen. Auch dass eine seit Jahren bestehende Feindschaft die Insel in zwei rivalisierende Lager teilt (»In den Dörfern im Osten gibt es Leute, die würden einen aus dem Westen nicht aus dem Wasser ziehen, wenn er in einer Eisrinne am Ertrinken wäre.«), will er nicht wissen. Er erfüllt sein Amt mit Herzblut und voller Begeisterung, radelt zu seinen Schutzbefohlenen auf ihren kleinen Gehöften. Wenn die »Pfarrersglocke« nach uraltem Brauch läutet, strömen die Leute in die Kirche, stimmen voller Inbrunst in den gesungenen Gottesdienst ein, suchen offenherzig das Gespräch. Nie käme es ihm in den Sinn, auch nur einen abzuwimmeln. Petter ist vielmehr ergriffen, inspiriert, fühlt sich getragen. Frohgemut stimmt er den Lobgesang an und erteilt seiner Herde den Segen.
Bei so viel Einsatz bleibt dem beliebten Gottesmann kaum Zeit für seine junge Frau Mona und die kleine Sanna. Doch Mona weiß, dass die Familie in dieser Phase ihr eigenes Leben aufbauen muss, dass sie, wo sie Haus und Heim haben, kaum mehr als einen Bruchteil der vielen Dinge schaffen können, die zu tun wären. Da muss eben manches hintanstehen, das Ausruhen sowieso, aber auch, sich »einander zuwenden und umarmen«.
Aber »die Pfarrersfrau liebt ihren Mann« – mehr noch: Sie vergeht geradezu vor glühender Liebe für ihn, und dies zurückzuhalten fällt ihr schwer. So stürzt sie sich tagein, tagaus in ihre Arbeit, umsorgt ihr Kind, das gerade jetzt so aufnahmefähig, so wissbegierig ist, richtet das Haus ein, melkt die Kühe, mistet den Stall aus (bislang unerhörte Tätigkeiten einer Pfarrersfrau auf Örar), bewirtet die Mitbürger bei Kirchfesten und zur Sonnenwende opulent mit Selbstgebackenem und anderen Köstlichkeiten. Ihre Geschäftigkeit bringt ihr viel Lob und Anerkennung ein, und »so praktiziert das Ehepaar Geburtenkontrolle«.
Zwei Jahre später kann sich die Familie Kümmel des kleinen Glücks erfreuen, das sie sich geschaffen hat, und schaut dem dritten Frühling auf Örar optimistisch entgegen. Mona hat eine zweite Tochter geboren, »die Zäune sind repariert, und sie haben Geld für ein Pferd und einen Bootsmotor zurückgelegt. Es bräuchte schon eine Katastrophe, um all das aufzugeben« ...
»Eis« ist ein Roman der kleinen Dinge, sich stetig wiederholender Tagesabläufe und ewig wiederkehrender Jahreszeiten in einer von der Welt und ihren Problemen abgeschnittenen, einsamen Landschaft. Auf kurze Sommer, in denen die Inseln zur Attraktion für Segler, Verwandte und Freunde werden, folgen Herbststürme und lange Winter, in denen die Ostsee zufriert. Wenn selbst das Meeresrauschen erstarrt, kehrt unbeschreibliche Stille ein: »Endlich Friede auf Erden.« Dann wird das Eis zu einer begehbaren Ebene, über die die Insulaner einander zu Fuß und auf Tretschlitten besuchen.
Doch auf die Idylle ist kein Verlass. Das in der Wintersonne funkelnde und spiegelnde Eis knistert und knackt und kann ganz unerwartet reißen und aufbrechen. Ebenso spürt der Leser von Beginn an, dass sich unter der ruhigen, in langsamem Ebenmaß dahinfließenden Erzählung eine Katastrophe anbahnt. Es ist diese unheimliche Ahnung, die uns vorantreibt, Seite um Seite zu verschlingen, Detail um Detail von Monas Arbeitswut und Petters Enthusiasmus aufzusaugen. Die Autorin verzichtet auf jegliche Spannungsmache der konventionellen Art. Kleinschrittig beschreibt ihr unpersönlicher Erzähler jede Einzelheit des Schauplatzes, jede Bewegung, jeden Gedanken, dazu Geräusche (»sirr, rrring«) und andere Sinneseindrücke. Dabei kommt ihr Stil ohne Adjektivvielfalt aus; sie reiht einfache Aussagesätze im Präsens aneinander, die gefühlsneutral, rein faktisch berichten, aber kein Detail auslassen. Erstaunlich, welche Spannung, welchen Sog das entwickelt – dabei ist es nüchtern betrachteter Alltag ohne Bösartigkeiten, Verbrechen, Gewalt oder schockierende Wendungen ...
Abgesetzt vom Haupterzählfluss kommentiert Postmann Anton die Ereignisse. Er hat nicht nur einen sensiblen Blick für die Natur im Wechsel der Jahreszeiten, ihre raue Schönheit und ihr drohendes Gewaltpotenzial, er kennt ebenso gut seine Pappenheimer mit ihren Eigenheiten und Sorgen. Schicksalsergeben führen sie ein entbehrungsreiches Leben, trotzen dem kargen, die meiste Zeit gefrorenen Boden einen kläglichen Ertrag ab. Die meisten sind zufrieden, doch manche leiden, werden depressiv.
»Eis« ist mehr als eine schöne, manchmal melancholische Lektüre. Mit den einfachen Lebensumständen der Inselbewohner vor Augen wird uns bewusst, was Glück ausmacht und wie zerbrechlich es ist. Wir erkennen wieder einmal, in welch turbulenter, oberflächlicher Zeit wir mittlerweile angekommen sind, wie hohl die Ideale sind, denen wir unsere kostbare Lebenszeit opfern: Konsum, Karriere, Ego, virtuelle Realitäten. »Eis« lässt uns innehalten.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2014 aufgenommen.