Winter-Thriller – bitte am Stück, nicht in Scheibchen genießen!
Der norwegische Autor Torkil Damhaug hat nach seinem Studium der Medizin und Psychologie zunächst als Psychiater gearbeitet, bevor er 1996 seinen ersten Thriller schrieb. Mit "Bärenkralle" gelang ihm 2007 der internationale Durchbruch. In seinem neuesten Psychothriller "Die Netzhaut" verwertet er seine berufliche Erfahrung sehr effektvoll. Auf einem Fundament, das etliche Handlungsstränge, Motive und Charaktere anlegt, erstellt er ein Romangebäude, das mit wachsender Höhe und zunehmender Verengung immer spannender wird. Wir kommen außer Atem im Turmzimmer an und sind uns des Täters sicher – doch da öffnet sich noch ein Türchen, da gibt es noch ein Treppchen ...
Alles beginnt auf Kreta, wo der 12-jährige Jo mit seiner Familie Urlaub macht. Seine Mutter Ragnhild, nahezu ständig alkoholisiert, und Arne, sein Stiefvater, überlassen dem Jungen die Verantwortung für seine beiden Geschwister. Doch der hat keinen Bock auf Babysitting; er hat sich nämlich in ein hübsches Mädchen namens Ylva verliebt. Die wiederum amüsiert sich lieber mit einem anderen Jungen. Jo verflucht sie, ritzt "Scheiß Ylva" in eine Baumrinde und lässt seine wütende Enttäuschung an einer streunenden Katze aus. Sadistisch quält und tötet er sie.
Dann zieht es ihn zum Meer. Weiter und weiter will er gehen. Aber Jakka, ein erwachsener Mann, der sich schon einmal am Pool mit ihm unterhalten hatte, ruft ihn zurück: "Hey Jo, ist es nicht etwas spät zum Baden?"
Zwölf Jahre später verschwindet am 11. Dezember in Oslo die Psychologin Mailin Bjerke. Seit längerem arbeitete sie an ihrer Habilitation mit zunächst acht Patienten, die alle Opfer sexuellen Missbrauchs geworden waren. Ein Patient hatte seine Therapie abgebrochen ...
Im norwegischen Fernsehen erregt eine Talkshow besonderes Aufsehen. Elias Berger, ausgebildeter Theologe, zeitweise Rockmusiker, ist Produzent und Moderator der sensationslüsternen Sendung "Tabu". Bewusst und erbarmungslos provoziert Berger seine Zuschauer mit Themen und Methoden, die die Grenzen der "Political Correctness" weit hinter sich lassen. Er hatte Mailin eingeladen, sie hatten ein paar Vorgespräche gehabt – und dann erschien sie nicht zum festgesetzten Sendetermin. Hatte sie etwas herausgefunden, das Berger in der Öffentlichkeit desavouiert hätte? Hat er kurzfristig die Reißleine gezogen?
Mailins jüngere Schwester Liss führt ein völlig anderes Leben in einem sozial miesen Milieu, wo man kokst und sexuell freizügig in den Tag hinein lebt. Für den bescheidenen Unterhalt genügt ihr Model-Job (Wim, ihr Fotograf, behauptet, sie habe das Aussehen einer Elfe.). Immer wieder hat Liss Ärger mit der Polizei. Auf Protestdemos leistet die Aktivistin bewaffneten Widerstand und wird sogar festgenommen. Liss weiß, dass Mailin sie in Stücke reißen würde, wenn sie erführe, wie sie ihre Tage zubringt.
Am 12. Dezember erfährt Liss durch einen Anruf ihrer in Tränen aufgelösten Mutter von Mailins Verschwinden, und ihr ist klar: "Ich muss Mailin finden." Zwei Tage später fliegt sie nach Oslo. Dort findet sie bei Mailin einen Zeitungsausschnitt über den Mord an einem 19-jährigen Mädchen. Ob da irgendeine Verbindung zu Mailins Umfeld besteht?
Liss forscht, lässt nicht locker, sucht in Aktenunterlagen, einem Notizbuch ihrer Schwester, fährt hinaus an den See zur geliebten Wochenendhütte, nimmt Kontakt mit Mailins Lebensgefährten auf, spricht mit Polizei und Kollegen. Sie leistet mehr als Roar Horvath, einer der Kriminalbeamten, der erst spät, aber dann doch intensiv recherchiert ...
Ein psychologisch tiefgründiger, beklemmender, manchmal sehr brutaler Krimi, in dem alles stimmt: ein guter Plot in winterlich-düsterer Atmosphäre mit sehr unterschiedlichen Charakteren, die der Autor so raffiniert präsentiert, dass das Offensichtliche bestimmt nicht die Lösung sein wird ...
Ein Tipp: Das ist kein Buch, dass man häppchenweise über längere Zeit hin verteilen sollte. Die Wiedereinstiege könnten frustrieren, wenn der eine oder andere Zusammenhang nicht mehr präsent ist. Lesen Sie diesen vielschichtigen Roman lieber in einem Rutsch ...