Eisiges Land
von Tore Kvæven
Wie konnten die Wikinger im Mittelalter auf Grönland überleben, und wer waren sie eigentlich? Diese Fragen behandelt Tore Kvævens Roman, indem er den Lebensweg eines klugen, mutigen jungen Mannes schildert, der sich nicht abfinden mag mit widrigen Bedingungen und uralten Sippenstreitigkeiten.
Eine untergegangene, unvergessene Kultur
Grönland ist die größte Insel der Erde, mit rund 2,2 Millionen Quadratkilometern etwa so groß wie das ganze westeuropäische Festland von Portugal und Sizilien bis an die Grenzen zu Dänemark, Polen und die Slowakei. (Die bei uns üblichen Weltkarten in Mercator-Projektion bilden die nördlichste Landfläche der Welt allerdings wegen der sphärischen Verzerrung noch viel gewaltiger ab, als sie ohnehin ist.) Die nicht einmal 60.000 Einwohner leben an den Fjorden der Küste, hauptsächlich im Westen. Zur Besiedlungsgeschichte des Landes liegen kaum gesicherte Erkenntnisse vor, denn es sind nur wenige Artefakte wie Reste von Hütten erhalten, alle schriftlichen Quellen wurden außerhalb Grönlands verfasst, die Überlieferungen in den berühmten nordischen Heldensagen sind naturgemäß unzuverlässig, Namen, deren Bedeutungen und bezeichnete Orte lassen nur Vermutungen zu.
Offenbar haben seit über viertausend Jahren immer wieder Wellen kühner Inuit-Seefahrer aus Alaska und Kanada die Insel angesteuert und sich niedergelassen, um Robben, Rentiere und Moschusochsen zu jagen. Dann wurden die Siedlungen wieder aufgegeben, das Land blieb für Jahrzehnte und Jahrhunderte sich selbst überlassen, bis neue Gruppen kamen und gingen. Eine bedeutende Wende brachte im 10. Jahrhundert n. Chr. die Zuwanderung von Nordeuropäern, speziell von rebellischen Isländern wie Erich dem Roten, der 984 dorthin verbannt wurde und das Land Grænland, seine eigenen Leute Grænlendingar und die dort angetroffenen Inuit-Ureinwohner Skrælingar nannte. Die neuen Siedlungen trieben regen Handel mit Amerika und Norwegen, und ihre Kultur blühte bis ins 15. Jahrhundert. Schon Leif Eriksson (Sohn Erichs des Roten) hatte das Christentum eingeführt und gilt, seit er auf der Insel Vinland (einem Teil Neufundlands) landete, als erster Europäer, der amerikanischen Boden betrat.
Diese wagemutigen Besiedler Grönlands nannten sich selbst Wikinger, in etwa »Seefahrer auf Raubzug«. Sie definierten sich also nicht als Volk im ethnischen Sinne, sondern als stolze Gruppe, die sich von den gefestigten Gesellschaftsordnungen ihrer skandinavischen Herkunftsländer und deren ehrenwerten Formen des Broterwerbs absetzte. Als verwegene Navigatoren auf innovativen Schiffstypen waren sie sehr erfolgreiche Entdecker neuer Seewege und unbekannter Küsten und etablierten stabile Handelsbeziehungen. Erst 1261 erklärten sie sich Norwegen zugehörig. Im 14. Jahrhundert ließen die Handelsverbindungen nach, verschwanden im 15. Jahrhundert ganz, und die Siedlungen in Grönland wurden aufgegeben. Die Gründe für diesen Niedergang sind bis heute nicht ganz geklärt, aber die Kultur der Wikinger hat ihre Faszination durch die Zeiten bewahrt.
Der norwegische Autor, Schafzüchter und Lehrer Tore Kvæven (*1969) hat bereits 2018 einen außergewöhnlichen Roman veröffentlicht, der seiner Leserschaft einen Eindruck verschaffen kann, wie das Leben der Wikinger auf Grönland ausgesehen haben könnte. In Norwegen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, ist das Buch jetzt für den Piper-Verlag von Andreas Brunstermann und Gabriele Haefs ins Deutsche übersetzt worden.
Die Handlung setzt 1293 ein, als Zeichen des Abschwungs bereits erkennbar wurden. Vielleicht bezieht sich der Originaltitel des Romans auf diesen Aspekt: »Når landet mørknar« (»Wenn das Land dunkler wird«). Es fehlt an Holz zum Schiffsbau, Walrösser – die wertvollsten Beutetiere – lassen sich nur noch vereinzelt blicken, die einst regen Handelskontakte mit Norwegen und Island versiegen. Die Menschen leben von ihrem Viehbestand, aber dessen Erträge sind auf den kargen, während der langen Winter gefrorenen Böden gering. Blutige Auseinandersetzungen zwischen den Sippen um Macht und knappe Ressourcen sowie gegen die aus Norden vordringenden Inuit fordern Todesopfer. Mut und neue Ideen sind nötig, soll das drohende Ende der Wikinger auf Grönland abgewendet werden.
In einer kleinen Siedlung an der Südspitze der riesigen Insel lebt Arnar, der fünfzehnjährige Protagonist. Der Sohn eines Bergbauern sieht mit großer Spannung seiner ersten Teilnahme an einer Walrossjagd entgegen, seit sich nach vielen Jahren erstmals wieder dreißig der Tiere in den Fjord gewagt haben. Hûnvarg, der gerade erwachsen gewordene Sohn von Hafgrim, dem »Gesetzesverkünder«, hat sie entdeckt, und nun werden alle Bewohner der Umgebung informiert. Für jeden Mann gilt gleiches Jagdrecht, und wenn sich alle zusammenschließen, können ihnen die »Geschöpfe des Wohlstandes« mit ihrem Fleisch, Speck, Öl und Elfenbein genug Ertrag bringen, um den harten Winter zu überstehen.
Der Frieden in der Gemeinschaft steht freilich auf tönernen Füßen. Uralte, doch unvergessene Streitigkeiten gefährden jedes Zweckbündnis. Zweihundert Jahre ist es her, dass der Vorfahr von Himin-Gorm, des Häuptlings von den Odinshöfen, all jene, die dem neuen Christen-Gott folgen wollten, des Verrats bezichtigt hat. Auf dem »Thingstein« drohte er ihnen, »er würde sie totschlagen lassen«, wenn sie sich fortan nicht von seinem Herrschaftsgebiet fernhalten. So zerbrachen die Freundschaften zwischen den umliegenden Bergdörfern, und selbst zur gemeinsamen Jagd kommen die Bewohner der Odinshöfe und der Fjordhöfe als Erzfeinde. Jeder spürt, dass nicht allein reiche Walrossbeute auf dem Spiel steht.
Die drei größten Boote werden von dem selbstbewussten Himin-Gorm (einem wahren »Ungetüm«) und seinen Männern gerudert. Unbeeindruckt nehmen der furchtlose, zuversichtliche Arnar und sein kräftiger Knecht Sel-Flokke auf den Bänken eines Bootes von den Fjordhöfen Platz. Weitere Boote werden zu Wasser gelassen, teilweise wenig Vertrauen erweckend mit Robbenhaut und Treibholzstücken geflickt. Beim sogleich einsetzenden Wettrudern setzen sich, vom Hass befeuert, zwei Boote an die Spitze: das der Himin-Gorm-Sippe und das der Hafgrim-Sippe. Die verfolgten Tiere wehren sich mit ihren eigenen Mitteln. Unberechenbar tauchen sie ab, schießen wieder hoch, teilen sich auf, wenden unvermittelt ihre Richtung, verwirren damit die trägen Boote, die im Chaos unvermeidlich zusammenstoßen.
Der Autor setzt gleich zu Anfang und leitmotivisch immer wieder ein eindringliches Stilmittel ein: Er schenkt den gejagten Tieren eine eigene Perspektive. »Wie ein flüchtiger Geist durchschneidet das Walross die Unterströmungen des Fjords. Ein Schatten, der an den stockdunklen Felswänden des Fjordgrundes vorbeifegt … die langen Holzpfähle, die sich in seinem Körper festgebissen haben.« Die Blicke von Tier und Mensch begegnen sich zum ersten Mal, als das von Schmerz und Angst gepeinigte Tier mit unbändiger Wut donnernd die Wasseroberfläche durchbricht. Arnar erstarrt einen Moment, ehe er die Klinge seiner Axt tief in den Schädel des Tieres rammt und sich dafür die Anerkennung der Männer sichert, denn »diese Fähigkeit ist nicht allen gegeben«.
Arnars weiterer Lebensweg bildet den eigentlichen Plot des Romans. Der lebenshungrige junge Mann will trotz aller widrigen Umstände für sich und die Seinen eine gute Zukunft aufbauen. Sein großer Traum ist es, eines Tages das sagenhafte Vinland zu erreichen. Die Alten erzählen in ihren Geschichten von Bären und riesigen Moschusochsen, die die Skrälinger dort jagen, aber seit Jahrzehnten war kein Boot mehr dorthin aufgebrochen.
Nach drei harten Wintern treibt es Arnar zunächst in die Berge. Mächtige Gletscher verschließen unbesiedelte Täler und Ebenen. Die Vision, sich hier niederzulassen, das Land urbar zu machen, Hunderte Tiere darauf weiden zu lassen, spornt Arnar an. Aber ein Haus zu bauen bedarf des Einverständnisses von Häuptling Himin-Gorm, und das zu erhalten erfordert Geschick und Glück.
Die zufällige Begegnung mit einer jungen Frau am Ufer des Fjords wirbelt Arnars Leben durcheinander. Er spürt gleich, dass »die Walküre mit den langen Haaren« seine große Liebe und genau die Richtige für ihn ist. Erst sehr viel später erfährt er, dass Eir, Tochter von Hastein, schon einem anderen versprochen und somit für jeden anderen Mann eine Unberührbare ist. Insgeheim nähern sich die beiden einander an, aber ihr Leben geriete in Gefahr, sobald der Rivale davon erführe.
Dies sind die Motive und Elemente, die die Handlung auf vielen Schauplätzen vorantreiben. Ebenso großes Interesse erzeugen aber die detaillierten Beschreibungen und Szenen aus dem Alltagsleben. Tore Kvæven führt uns vor Augen, wie die Menschen unter feindlichsten Lebensbedingungen existieren konnten, indem sie einfallsreich nutzten, was die Natur ihnen bot: Tierfelle zur schützenden Bekleidung, Walrosszähne als Werkzeuge, Steine, Holz, Pflanzen und Feuer für die Herstellung ihrer Behausungen, Gerätschaften, Waffen und Boote. Nicht minder beeindruckend erleben wir die Sitten und Gebräuche der Menschen und insbesondere die Umwälzung, die die Christianisierung brachte. Auf einmal sollte es sündig sein, Tiere an im Kreis angeordneten Pfählen darzubringen, um die Götter gnädig zu stimmen, wo es doch Zeiten gegeben hatte, da ihnen selbst Menschen geopfert wurden? Die Christen sprachen auch anders Recht: Statt auf dem »Blutanger« bis zum Tod Streitigkeiten auszufechten und Verfehlungen zu bestrafen, verhandelten sie auf dem Thingplatz mit bloßen Worten, was Recht sein sollte.
Hilfreich ist das Glossar norwegischer Wörter am Ende des Buches, doch verzichtet hat man leider auf eine Landkarte mit den Schauplätzen der Handlung und eine Liste der vielen Personen und Gruppen.