Meier
von Tommie Goerz
Meier muss wegen eines Mordes einsitzen, den er nicht begangen hat. Kaum ist er wieder frei, macht er sich auf die Suche nach dem wahren Täter. Ein Durchschnittsname, ein Durchschnittsmensch, ein Durchschnittsplot, aber ein erfrischend ungewöhnliches Krimivergnügen jenseits jeglichen Durchschnitts.
Im zweiten Leben wird alles besser
Ein Held mittleren Alters, der einfach nur »Meier« heißt, das erweckt den Eindruck von Understatement. Tatsächlich entwickelt der Mann mit dem blassen Allerweltsnamen unter einer stillen Oberfläche erstaunliche Aktivitäten, die uns Leser bis zum Schluss mitreißen.
Erst einmal muss man Meier bedauern, und das für lange Zeit, denn es erwischt ihn übel. Eine Frau wird ermordet, und die gefundenen Spuren (ein Baseballschläger, eine Zigarettenkippe) sind eindeutig ihm zuzuordnen. Seine Beteuerungen, die getötete Frau gar nicht gekannt zu haben und nie am Tatort gewesen zu sein, machen vor Gericht keinen Eindruck. Stattdessen brummt man ihm zwölf Jahre Haft auf.
Nun beginnt eine harte Leidenszeit der Demütigungen und der Ohnmacht. Die Wachleute lassen sich von ihren Launen treiben und dirigieren die einsitzenden Verbrecher, wie es ihnen in den Sinn kommt. Die Kriminellen aus aller Herren Länder, viele mit beeindruckenden Lebensläufen abseits der Gesetze, malträtieren den Neuling erbarmungslos mit den verabscheuungswürdigsten Methoden. Irgendwie gelingt es ihm, sich in der Hackordnung einen Platz zu erobern.
Mit der Zeit arrangiert er sich mit dem »Leben in der Warteschleife, auf dem Abstellgleis«, dem immer gleichen Tagesablauf, dem miesen Essen, dem Eingesperrtsein. Was bleibt ihm auch anderes übrig? Er füllt die Leere seiner Existenz, in der ihm schon das Plätschern und Glucksen laufenden Wassers im Waschbecken als »reiches Geräusch […] von Freiheit und Ferne« erscheint. Die engen Zellwände begrenzen den Raum, um seinen Körper fit zu halten, aber für die Exkursionen seines Geistes gibt es keine Schranken. Das Analysieren beherrscht er, hat er doch einmal Physik und Philosophie studiert. Jetzt beobachtet er sein Umfeld, erforscht das Wesen seiner Mitgefangenen, von denen »jeder Vierte« nach kurzen Episoden in der Freiheit wieder hinter die vertrauten Gitter zurückkehrt, knüpft Kontakte mit denen, die Verbindungen zu Netzwerken draußen unterhalten, und lässt dabei Nützlichkeitserwägungen walten.
Als er wegen guter Führung zwei Jahre früher in die Gesellschaft entlassen wird, hat er die ewig lang erscheinende »Zeit gut genutzt«. Wie wird er es jetzt schaffen, mit seinem Leben zurechtzukommen, nachdem man ihm Freunde, Heimat, alles genommen hatte? Er bekommt auch etwas: 320,50 Euro »Restlohn, nach Abzug aller Kosten«, doch weit werden ihn die nicht tragen. Er zieht ein bitteres Resümee: »Ihr wart es doch, die mich zum Kriminellen gemacht haben […] Ihr wollt mich kriminell? Ihr könnt mich kriminell haben.«
Und damit nimmt die Handlung von Meiers zweitem Leben eigentlich erst ihren Lauf. Es entwickelt sich eine Art Roadmovie mit grob umrissenem Ziel: Nie lässt er seine Absicht aus den Augen, Rache zu üben und sich von dem, worum er betrogen wurde, etwas zurückzuholen – zumindest einen Haufen Geld, um damit endlich ein gutes Leben zu führen. Auf der Strecke spielen ihm manch glückliche Zufälle und Begegnungen in die Hand, doch auf der Hut muss er immer sein. Deswegen sucht er sich ein Refugium im tiefsten nowhere land, dem ehemaligen »Zonenrandgebiet« an der früheren innerdeutschen Grenze zwischen Fichtelgebirge und Frankenwald. Erst kommt er in Pensionen unter, dann findet er bei Hof ein gut gelegenes, heruntergekommenes Haus direkt an den viel befahrenen Gleisen der Hauptstrecke Berlin-München. Dauerhaft wohnen will er dort freilich nicht. Vielmehr ist er ständig unterwegs, um seine Recherchen in der Unterwelt des organisierten Verbrechens voranzutreiben. Den neugierigen Nachbarn gegenüber gibt er den Handlungsreisenden für Im- und Export.
Was macht das Besondere dieses knapp 160 Seiten langen Krimis aus? Er kommt ohne Gewalt- und blutrünstige Szenen aus und glänzt stattdessen durch Intelligenz, Temporeichtum und eine faszinierende Coolness der wendungsreichen Handlungsführung und der messerscharfen, präzisen Sprache. Tommie Goerz pflegt einen aufs Minimum reduzierten Stil, der trotz – oder gerade wegen? – der Komprimierung ungemein evokativ wirkt. Mit wenigen Worten wird dem Leser eine klare Vorstellung vermittelt, beispielsweise von der Gefängnisatmosphäre, den (gerne leicht überzeichneten) Menschen, der oberfränkischen Nachbarschaft, die alles im Blick hat und kontrolliert. Aus der Zeichnung manch schrulliger Figur blitzt freundlicher Humor. Auf welche Weise dieser Kriminalroman den Leser in Bann hält, das setzt ihn deutlich vom Mainstream ab und macht ihn doch ohne Einschränkung für jedermann empfehlenswert.
Hinter dem Pseudonym Tommie Goerz verbirgt sich übrigens der 1954 geborene Marius Kliesch, Soziologe, Lehrbeauftragter, Unternehmensberater und nebenher Schriftsteller. Beim Verlag ars vivendi in Cadolzburg (bei Nürnberg), der auf Fränkisches aller Art (auch Kulinarisches) spezialisiert ist, sind zwischen 2010 und 2020 bereits neun Krimis mit dem Kommissar Friedo Behütuns erschienen – natürlich ein Ur-Franke durch und durch.
»Meier« habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2020 aufgenommen.