Rezension zu »Das zerstörte Leben des Wes Trench« von Tom Cooper

Das zerstörte Leben des Wes Trench

von


Belletristik · Ullstein · · Gebunden · 384 S. · ISBN 9783550080968
Sprache: de · Herkunft: us

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Jeder schlägt sich selber durch

Rezension vom 22.03.2016 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Über zehn Jahre ist es her, dass Katrina, einer der ver­heerend­sten Hurrikane seit Menschen­ge­denken, über den Süd­osten der USA tobte und alles ver­wüstete, was aufrecht stand. Etwa 1.800 Menschen riss er in den Tod. Viele von ihnen starben in den tosen­den Wasser­fluten, nachdem um New Orleans die Dämme bra­chen. Als wäre dies noch nicht genug an Inferno gewesen, explo­dierte 2010 vor der Küste des Golfs von Mexiko Deep­water Horizon, eine Öl­platt­form des BP-Konzerns. Das unge­bremst hervor­quel­lende Rohöl vergiftete die Fisch­gründe, ver­klebte das Gefieder der Wasser­vögel und ver­dreckte die Strände.

Bis heute leiden Mensch und Natur unter den unge­heuren Folgen. Bei Hun­dert­tausen­den hat sich seit den Apo­kalyp­sen jener beiden Jahre nur das ver­bessert, was sie mit ihren eigenen Händen und den geringen eigenen finan­ziellen Mitteln bewäl­tigen konnten. Die meisten leben noch immer in den Ruinen ihres eige­nen Lebens, und das war schon vor den Kata­stro­phen nur selten eine er­strebens­werte Existenz. In diesem düsteren Szenario spielt Tom Coopers fesseln­der Aben­teuer­roman »The Marauders« Tom Cooper: »The Marauders« bei Amazon , den Peter Torberg in gewohnt souveräner Weise übersetzt hat.

Der Schauplatz ist ein Kaff bei New Orleans namens Jeannette: ein paar Super­märkte, Restau­rants und Bars, ein Tanz­schuppen, eine Straf­anstalt, eine Kirche und viele not­dürftig zu­sam­men­ge­flickte Schin­del­häuser. Wer hier haust, hat fast alles verloren – eine intakte Bleibe, Möbel, Boote, hin­reichende Ver­dienst­möglich­keiten, Ange­hörige. Doch aufzu­geben ist bisher kaum jeman­dem in den Sinn gekom­men. Irgend­wie hat man sich arran­giert und mit dem wenigen, was ver­blie­ben ist, einen Neu­start versucht, so wenig aus­sichts­reich er Außen­ste­hen­den er­schei­nen mag – »sie press­ten nur Blut aus den Steinen«.

Während manche mit einfachen Mitteln ein paar Dollar ver­die­nen können – Kreolen, Cajuns und Islenos bieten auf Klapp­tischen am Straßen­rand Satsu­mas, Fische und ge­schmorte Ein­töpfe aus Lan­gus­ten feil –, sind andere den Folgen der Ölpest auf Gedeih und Verderb ausge­liefert, denn die Lebens­grund­lage der Gegend, die einst tier­reiche Bara­taria Bay, ist größ­ten­teils verseucht. Immer noch fahren Männer täglich durch das brackige Wasser der Man­groven­sümpfe hinaus aufs offene Meer, um bei den Inseln Shrimps zu angeln. Doch selbst dort sind die Bes­tände dezimiert, viele Lebe­wesen ver­krüp­pelt, und außer­dem versor­gen sich die früheren Ab­nehmer, die Restau­rants, in­zwischen lieber mit billigen asia­tischen Tief­kühl­pro­duk­ten. Den Fischern aus der Nach­bar­schaft reichen die mick­rigen Erträge kaum noch zum Über­leben.

Sieben Protagonisten stehen beispielhaft für all die frust­rierten Lebens­künstler, schrägen Gestal­ten, Chaoten, Under­dogs und Gesetz­losen dieser geplagten Region. In alter­nieren­den Kapiteln erzählt jeder sein eigenes Schick­sal und das seiner Familie oder Freunde. Die poly­per­spek­tivi­schen Stimmen und Ein­drücke ergeben am Ende ein viel­fälti­ges Bild dessen, was Natur und Mensch erschaf­fen haben, was Natur und Mensch zerstört haben und welchen Preis Natur und Mensch jetzt tragen müssen.

Der siebzehnjährige Wes Trench hält bis heute Distanz zu seinem Vater Bob. Hätte der vor dem Sturm nicht starr­köpfig darauf bestanden, im Haus zu ver­harren, anstatt den vor­beu­gen­den Empfeh­lungen der Medien zu folgen und mit seiner Familie vor der dro­henden Gefahr zu fliehen, wäre Wes' Mutter sicher­lich nicht in den Fluten ertrun­ken.

Eine Zeitlang fuhren die beiden täglich auf Bobs Kutter hinaus zum Shrimps­fang. Ärger war unaus­weich­lich. Als der Streit eska­lierte, heuerte Wes bei dem irr­witzi­gen ein­armi­gen Fischer Gus Lind­quist an. Auch der hat sein Päck­chen zu tragen. Seine Frau und seine Tochter haben ihn verlassen. Er dröhnt sich mit Al­kohol und Schmerz­tab­letten zu, die er sich aus einem PEZ-Spender mit Donald-Duck-Kopf einwirft. Außer­dem treibt ihn die Vision, er werde eines Tages den Schatz des legen­dären Frei­beuters Jean Lafitte finden. Dazu durch­kämmt er in jeder freien Minute mit einem Metall­detek­tor den Schlamm nach spani­schen Dub­lonen. Was er findet, hat jedoch meist nur geringen Wert: Es sind Schmuck­stücke, die er um­ge­hend beim Pfand­leiher für kleines Geld verhökert. Die traurige Kehr­seite der Medaille ist ihm bewusst: Was ihm ein paar Cent einbringt, gehörte einmal jeman­dem, dem die Katastrophe sein ganzes Hab und Gut, wenn nicht das Leben geraubt hat.

Mit seinen abenteuerlichen Aktivitäten ist Lind­quist einem arg­listigen Zwil­lings­paar, den Toup-Brüdern, gefähr­lich nahe gekom­men. Die un­heim­lichen »Blut­hunde« bauen auf einer der vielen abge­lege­nen Inseln im Bayou heim­lich Mari­huana an. Als Warnung haben sie Lind­quist seine dreißig­tau­send Dollar teure elektrische Arm­prothese geklaut, und eins ist klar: Sie schrecken auch vor Mord nicht zurück. Seine Dieb­stahls­anzeige stößt freilich bei der Polizei auf geringes Inter­esse. Sheriff Villa­nova rührt keinen Finger. Doch einen wie Lind­quist wirft das nicht um. Mangels Geld – da geht es allen gleich mies – muss er jetzt seiner Arbeit zu Wasser und zu Lande halt mit einem simplen Haken aus dem Super­markt nach­gehen, so müh­selig das auch ist.

Der sagenhaften, geheimnis­umwo­benen Shit-Plantage sind noch andere auf der Spur. Eine unfrei­willig ab­ge­leis­tete Sozial­arbeit hat in New Orleans die zwei findigen Klein­ganoven Cosgrove und Hanson zusam­menge­führt, ein Klein­dealer berichtet ihnen von der un­auf­find­baren Insel, wo irgend­welche ver­rück­ten Typen traum­haften Shit anbauen und dir die Arme ab­schnei­den, wenn du ihnen zu nah auf den Pelz rückst, und so etwas spornt die beiden an. Doch sie unter­schät­zen das psycho­pathi­sche Potenzial der Toup-Zwil­linge gewaltig ...

In der allseitigen Not ist mancher versucht, jeden Stroh­halm zu ergrei­fen, wenn es denn ein paar Dollar ein­bringt. Darauf baut der Schaden­verur­sacher, der BP-Konzern, den nur ein Interesse treibt: Schaden­er­satz­forde­run­gen zu mini­mie­ren. Mit der dreckigen Arbeit vor Ort ist Bady Grimes beauf­tragt. Er sucht die verzwei­felten, Leid geprüften Katastro­phen­opfer auf, heuchelt An­teil­nahme, geriert sich als Retter in der Not und lügt das Blaue vom Himmel herun­ter, was für einen fetten Scheck sie ein­stecken können, wenn sie nur ihren Namen auf ein Blatt Papier setzen. Mit jeder Unter­schrift, die ein un­schul­diges Opfer mit einem Almosen statt einer reellen Ab­findung ab­speist, wächst das Quantum Whiskey, mit dem sich Grimes am Abend zu­schüt­tet.

Was dem verschlagenen Miesling seine perfide Arbeit erleich­tert, ist die Tat­sache, dass er selbst aus dieser Gegend stammt. Obwohl er schon früh­zeitig aus dem Sumpf abge­hauen ist, genießt er, zurück unter seines­gleichen, einen Ver­trauens­vor­schuss, wenn er daher­kommt wie eine »Sumpf­ratte« anstatt als »Yankee« aus dem Norden.

Tom Coopers Debütroman »Das zerstörte Leben des Wes Trench« ist ein span­nen­der Aben­teuer­roman mit einer Prise Krimi in bester ameri­kani­scher Erzähl­tradi­tion und tief ver­wurzelt in seiner Region. Der Staat Loui­siana ist gebeutelt von Kor­rup­tion, Armut, In­tole­ranz, Um­welt­zer­stö­rung und der all­jähr­lichen Hur­ri­kan­saison. Die leicht über­zeich­neten Figuren kämpfen hart­näckig gegen alle Widrig­keiten an und re­präsen­tieren ein Spektrum mög­licher Ver­hal­tens­weisen. Die einen schnappen gierig wie die Alliga­toren in den Sümpfen nach jeder Ge­legen­heit in Reich­weite, andere ackern sich in ihrem ver­wüste­ten Umland schier zu Tode, wieder andere ver­lieren sich auf der Suche nach einem Eldorado im Wahn.

Auch Wes lässt sich seine »Heimat« nicht durch üble Fakten mies machen. Hier gehört er hin, hier wird er bleiben, und Tom Coopers Schilde­rungen lassen uns nach­voll­ziehen, warum: »Die Bara­taria war der tor­fige Geruch von Loui­siana­moos im ersten Früh­lings­regen ... Ter­miten­schwärme im Mai ... Lärm der Sumpf­frösche im Sommer ... Karneval des Mardi Gras ... das grüne Leuchten der Zypres­sen in der Abend­dämme­rung ... die Cajun-Stim­men, salzig und rau ... die alten Gesich­ter, so fremd­artig wie Dau­men­ab­drücke«. Trotz der »ver­fluch­ten Öl­ge­sell­schaf­ten« spürt Wes den »Sog der Zukunft«.

Bei aller Tragikomik und bitte­rem Sar­kas­mus setzt sich am Ende ein posi­tiver Aus­blick nach ame­rikani­schem Credo durch: Wes, das starke, ambi­tio­nierte In­divi­duum, lässt sich nicht unter­kriegen, wird als Hoff­nungs­träger gefeiert. Keine Rede davon, dass ja auch mal die Solidar­gemein­schaft, der Staat wenigs­tens den Schwächs­ten ein wenig unter die Arme greifen könnte. Dazu passt es, dass die Bundes­haupt­stadt Washing­ton und der amtie­rende Präsi­dent George W. Bush, der wegen Katrina kein Auf­hebens machte (»Katrina­gate«), im ganzen Buch keine Erwäh­nung finden. Was ein richtiger Ameri­kaner ist, der schlägt sich eben mit eigener Kraft durchs Leben und jammert nicht nach staat­licher Hilfe.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2016 aufgenommen.


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