»My Heart Will Go On«
Titus Müllers historischer Roman "Tanz unter Sternen" beginnt in Berlin im Jahre 1912. Die Männer tragen Zylinder und Gehröcke. Immer mehr Gaslaternen werden gegen elektrische ausgetauscht. Man trinkt "Sinalco", wäscht sich mit "Sunlicht", scheuert mit "Vim". Das gerade eingeführte Label "Made in Germany" sorgt für weltweite Nachfrage nach deutschen Produkten. Es gibt aber auch Flickschuster, Lumpensammler, Schlafgänger als Wohnungsuntermieter.
Mit drei Szenen auf wenigen Anfangsseiten fesselt der Autor den Leser sofort. Kaltblütig erschießt der Engländer Lyman einen Journalisten, der ihm einen geheimen Artikel zum Kauf anbietet.
Matheus, ein Baptisten-Pastor mit hypochondrischem Krankheitswahn, wird von reißenden Wassermassen durch einen Spalt in der Schiffswand ins tosende Meer gesogen. Er kann kaum noch atmen, sinkt tiefer und tiefer, japst noch einmal nach Luft – dann erwacht er aus seinem entsetzlichen Albtraum. Vor sechs Jahren befand er sich auf einem Mittelmeerdampfer, der in Seenot geriet. Alle Passagiere konnten gerettet werden. Damals schwor sich Matheus, nie mehr in See zu stechen. Deshalb hat er auch das Telegramm aus Chicago, eine Einladung des Bible Institute, in einer Schublade versteckt, ohne seiner Frau Cäcilie davon zu berichten.
Nele, eine Barfußtänzerin, erhofft sich mit ihrem ersten Auftritt im legendären Berliner Varieté "Wintergarten", endlich entdeckt zu werden, den Durchbruch zu schaffen, nachdem sie all ihr mühselig als Zinnfigurenmalerin erarbeitetes Geld vollständig in private Tanzstunden investiert hatte. Aber ihr Soloauftritt erfüllt weder die Erwartungen des Publikums noch die des lüsternen Direktors – alle wollen mehr aufreizende Haut sehen -, und Nele wird gefeuert.
Die Wege dieser drei Personen sind vorbestimmt, und sie werden sich im weiteren Handlungsverlauf kreuzen.
Cäcilie, eine verwöhnte Tochter aus reichem Hause, fühlt sich in ihrer Ehe mit Matheus gelangweilt und vernachlässigt, denn der widmet seine Aufmerksamkeit mehr seinen Gemeindemitgliedern als ihr. Nur klein sind ihre Gewissensbisse, als sie sich zu einem Tête-à-tête mit dem attraktiven Lyman trifft. Er hatte Cäcilie in Begleitung ihres siebenjährigen Sohnes Samuel in der Stadt beobachtet und ihr geschickt einen Zettel mit Treffpunkt und Uhrzeit zugesteckt.
Als Matheus die beiden zufällig in einem Café entdeckt, stellt er Cäcilie zur Rede. Es kommt zu einem heftigen Streit; Cäcilie bereut ihr Vorgehen. Im Kampf um seine Ehe unterdrückt Matheus seine traumatische Angst und bucht die Überfahrt nach New York auf dem damals größten Passagierschiff der Welt, der Titanic. Auf diesem Luxusliner, in einer Doppelstockkabine der 2. Klasse, wird er die Liebe seiner Frau zurückgewinnen. Doch es kommt alles anders. Denn Lyman scheint Cäcilie nicht aufgeben zu wollen. Er folgt ihr auf Schritt und Tritt und bucht ebenfalls ein Ticket auf der Titanic – er kann sich eine Kabine der 1. Klasse leisten.
Nele beschließt, ihr Glück in Amerika zu suchen. Allerdings wird sie die Überfahrt in der Massenunterkunft der 3. Klasse überstehen müssen.
Das historische Desaster nimmt seinen Lauf. Während die Titanic sich den Eisbergen nähert, eskaliert die schicksalhafte Verknüpfung der Hauptprotagonisten in dramatischer Weise. Cäcilie fällt auf Lymans Werben herein und lässt sich zu einer folgenschweren Unterschrift unter ein Dokument drängen. Lautstark streitet sie sich mit Matheus. Sohn Samuel erträgt die ihn belastende Stimmung nicht mehr, er haut ab und gerät an Adam, der die reichen Passagiere in ihren Kabinen beraubt. Nele begegnet Matheus auf Deck, nimmt seinen Herzschmerz wahr, spürt, dass sie diesen sensiblen Mann liebt. Als alles auseinanderzubrechen droht, rammt die Titanic einen Eisgiganten – das Ende steht unmittelbar bevor.
In dieser Ausnahmesituation zeigen sich die wahren menschlichen Charaktere. Titus Müller entwickelt seine Figuren weiter, heftige Veränderungen finden statt. Der englische Dandy entpuppt sich als egoistischer Feigling: Verhüllt mit einem shawl gibt er sich als Frau aus und erschleicht sich damit einen Platz bei Cäcilie in einem der wenigen Rettungsboote, und er schießt sogar auf die hilflosen Menschen, die sich in äußerster Not im eisigen Wasser am Bootsrand festhalten wollen. Im Gegensatz zu ihm helfen Matheus und Nele auf dem sinkenden Koloss, wo sie nur können; zuletzt reicht Matheus einer hilflos verzweifelten Dame seine eigene Rettungsweste.
Cäcilie erkennt jetzt, welch ein Unmensch neben ihr sitzt und was sie dagegen in Matheus gehabt hat. Sie hofft, er werde sich noch retten können, denn sie möchte so vieles wieder gutmachen. Während das Schiffsorchester standhaft bis zum Schluss spielt, werden immer mehr Menschen haltlos über die Planken gerissen oder sehen keinen Ausweg mehr, als in die eiskalten Fluten zu springen. In kürzester Zeit verschwindet das als "unsinkbar" geltende Wunderwerk der Technik im finsteren Ozean.
Wer James Camerons "Titanic"-Film von 1997 gesehen hat, wird das traumhafte Schiff auf immer genau vor Augen haben. Cameron hatte es aufwändig rekonstruiert. Wir sehen, wie das glänzende Leben der high society streng abgetrennt ist von dem der Ärmsten unter Deck, und niemand wird die herzzerreißende Geschichte vergessen können, die sich zwischen Rose (Kate Winslet) und Jack (Leonardo DiCaprio) abspielt, als beide diese gewaltige gesellschaftliche Hürde zu überwinden versuchen.
Titus Müllers anschauliche und anregende Beschreibungen versetzen uns an die aus dem Film bekannten Orte, lassen diese Bilder unweigerlich wieder auferstehen. Damit steht der Autor im Wettbewerb mit dem Filmemacher, wenigstens für die Leser, die den Film kennen, und das werden die meisten sein. Lohnt es sich auch für sie, dieses Buch zu lesen?
Selbstverständlich, finde ich. Die Möglichkeiten der Charaktergestaltung sind im Roman naturgemäß erheblich differenzierter als im Film, wo wir nur das Äußere wahrnehmen können und und uns im Übrigen "unseren Teil denken" müssen.
Titus Müllers Konzept überzeugt, sowohl was den Plot als auch die Personenzeichnung betrifft. Kleine, fast beiläufig eingefügte Beobachtungen überraschten mich immer wieder. Was geht in den Köpfen von Menschen vor, die den Tod vor Augen haben? Müller vermutet ganz Unerwartetes: "Teure Kirschzahnpaste. Was die Leute liegen lassen, es ist ein Skandal!" (S. 291) "Ich habe vierzig Kleider auf dem Schiff und ein Dutzend Federboas. Wer ersetzt mir das?" (S. 297) Warum lässt die Psyche solche absurd deplatzierten Gedanken aufkommen?
Last but not least fand ich Müllers ausgewähltes, feines Vokabular sehr ansprechend, so dass das zugegebenermaßen etwas abgedroschene Thema "Der Untergang der Titanic" in Titus Müllers guter Bearbeitung wieder eine reizvolle, spannende Unterhaltungslektüre ist.
In einem ca. 30-seitigen Anhang findet der Leser die historischen Fakten: "Die RMS Titanic, ihre Passagiere und die Ursachen des Unglücks".