Rezension zu »Er ist wieder da« von Timur Vermes

Er ist wieder da

von


Satire · Eichborn · · Gebunden · 400 S. · ISBN 9783847905172
Sprache: de · Herkunft: de

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Germany's next Top-Führer

Rezension vom 23.02.2013 · 44 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

So ein unfassliches Buch haben Sie und ich noch nicht gelesen.

Am 30. August 2011 erwacht ein 56-Jähriger mit verdreckter, nach Benzin stinkender Uniform auf einem Brachgelände mitten in Berlin. Kein Geschützdonner, keine Luft­schutz­sirenen, keine Reichkanzlei, kein Führerbunker, keine Eva, stattdessen von Schmutzfinken beschmierte Häuserwände und fuß­ball­spie­lende Pimpfe in Sportleibchen, grellbunt und mit "Ronaldo"-Aufschrift. Die Buben, "für den Volkssturm noch zu jung", mustern ihn, erkundigen sich respektlos mit "Allet klar, Meesta?", statt den Deutschen Gruß zu entbieten ...

Der zunächst orien­tierungs­lose Mann ist niemand anders als Adolf Hitler, nach mehr als 60 Jahren Dorn­röschen­schlaf in unsere Zeit katapultiert und gänzlich unversehrt. Nur hat sich die Welt verändert. Indem er sich (als Ich-Erzähler) durch die Hauptstadt schlägt, lernt er die verwirrende, wider­sprüch­liche moderne Zeit kennen und bewertet sie aus seiner Perspektive. Sein erstes Fazit: Offensichtlich ist Deutschland "im tiefsten, faulsten Frieden" versumpft.

Im Bildungswesen ist "bodenlose Schlamperei" eingerissen. Wenn "Hitlerjunge Ronaldo" nicht einmal seinen Ober­befehls­haber erkennt, "dann ist die ganze Armee keinen Pfifferling wert". Die Sprachkultur ist verfallen (ein "Sprachverhau, von geistigem Stacheldraht durchzogen, von mentalen Granaten zerpflügt"). Farbige Presse­erzeug­nisse, Verpackungen und Automobile verschleudern "wertvolle Ressourcen des Volkseigentums" ("Hatte das Reich womöglich die rumänischen (Erdöl-) Vorkommen in Händen behalten?").

Trost bringen ihm Kleinigkeiten wie der "tadellose deutsche Schriftzug" einer gewissen "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und der "Berliner Zeitung"; Hoffnung gibt ihm die friedliche Anwesenheit vieler Repräsentanten eines "treuen Gehilfen des Deutschen Volkes", der Türkei. Offenbar hatte das Reich also "auch in der Stunde der vermeintlich tiefsten Dunkelheit niemals den Glauben an den Endsieg aufgegeben", und die neue "Achse Berlin-Ankara" hatte sich als "kriegs­ent­schei­dende Wende" erwiesen ...

A. H. im Jahre 2011 wieder auferstanden? Was für eine abwegige, obszöne Idee! Humorvoll oder nicht - spielt denn nicht schon das bloße Konzept die schlimmsten Verbrechen aus unserer düstersten Zeit herunter? Lassen wir nicht zu, dass ein Monster verharmlost wird? Wir alle kennen die Standard­formu­lierungen im Umgang mit unserer jüngeren Geschichte. Und ja, die Einwürfe müssen ernstgenommen werden. Wer sich mit den furchtbaren Entwicklungen befasst, womöglich selbst Schreckliches erlebt oder Nahestehende verloren hat, mag dieses Buch aus Prinzip ablehnen: Über Realität gewordenen Horror und unsägliches Leid macht man keine Witze. Und sollte die Büchse der Pandora angesichts der aktuellsten Vorfälle um NSU und NPD nicht lieber verschlossen bleiben?

Timur Vermes aber bringt den Mut auf, einen ganzen Tabu-Komplex aufzubrechen, schon indem er unaus­sprech­liches NS-Vokabular im Klartext benutzt: "Erst sah [...] die Vorsehung meine Aufgabe darin, den bol­sche­wisti­schen Bevöl­kerungs­über­schuss abzuschöpfen. Und nunmehr liegt meine Berufung natürlich darin, den Rest der Mission zu erfüllen." - "Wenn ich es recht sehe, macht mir nicht einmal die Siegerpresse das Verdienst streitig, diese Parasiten vom Erdboden getilgt zu haben."

Wie ist es möglich, solche Sätze auf die Ladentheke zu bringen, ohne dass ein Sturm der Entrüstung sie sogleich in die dunkelbraune Ecke fegt? Das liegt zunächst einmal an der cleveren Erzählsituation, die dem schmuddeligen Ich-Erzähler eine Art Narrenfreiheit verleiht. In der Tat nimmt ihn und seine Sprüche­klopferei kaum jemand ernst; was vor siebzig, achtzig Jahren die Welt erschaudern ließ, wirkt auf die Heutigen wie das Gekläffe eines größen­wahn­sinnigen Foxls (Foxterriers). Dabei tanzt Vermes, indem er beim Originalton bleibt, natürlich auf des Messers Schneide, wo er sich doch durch minimale Überziehungen schnell blutige Füße hätte holen können.

Aus der fantastischen Führer-Perspektive heraus kann Vermes dann unsere Gegenwart aufs Korn nehmen - was wohl seine eigentliche Absicht ist: eine Generalkritik, ein Hinterfragen liebgewonnener Gewohn- und Gegebenheiten, ein Kratzen an allzu glatt gewordenen politischen Korrektheiten, ein Rütteln an den Thronen sich sicher wähnender Autoritäten. Der Führer als Wiedergänger beobachtet scharf, wundert sich über dies und jenes, entdeckt (aus seiner Sicht) Gutes, Schlechtes und Zweifelhaftes, konstatiert überraschende Kontinuitäten und Kontraste zu seiner Epoche, stellt Fragen, diskutiert, stellt kühne Behauptungen auf - und wirft in jedem Fall ein überraschendes, erhellendes, verstörendes Licht auf unsere Zeit.

Mit diesem literarischen Ver­frem­dungs­ver­fahren ist Vermes keineswegs der erste. Kennen Sie beispielsweise die "Briefe in die chinesische Vergangenheit" Herbert Rosendorfer: 'Briefe in die chinesische Vergangenheit' bei Amazon von Herbert Rosendorfer (1983)? Da gerät ein Mandarin aus dem 10. Jahrhundert ins moderne München ("Min-chen"), wundert sich über die Zustände und beschreibt sie in Briefen an seinen Freund daheim im Mittelalter. Rosendorfer (der im September 2012 verstarb) verfasste damit eine höchst amüsante, durchaus tiefsinnige, umfassende Kultur- und Gesell­schafts­kritik, zielte aber weniger auf die Tagespolitik als Vermes, bei dem Renate Künast, Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Philip Rösler ihr Fett abbekommen und wir tagesaktuelle Einblicke in Medien­land­schaft, Erziehungswesen, Frauenrollen und Bundes­wehr­ein­sätze nehmen. NPD und Neonazis fallen übrigens vor den gestrengen Augen ihres Idols glatt durch ...

(Als vergleichbares Buch könnte man auch "Fatherland" Richard Harris: 'Fatherland' bei Amazon ["Vaterland" Richard Harris: 'Vaterland' bei Amazon ] von 1992 heranziehen; Autor Richard Harris hat sich darin ausgedacht, wie Europa 1992 ausgesehen haben könnte, wenn das "Dritte Reich" den Krieg gewonnen hätte. Das Szenario benutzt er aber lediglich als Kulisse für einen Thriller.)

Vermes erreicht ohne weiteres Rosendorfers locker-verspielte Heiterkeit in Ton und Sprache, denn neben dem anheimelnd-altdeutschen Wortschatz ("Wohnstube", "Mädel", "Droschke", "Licht­spiel­theater") gibt es nette Wortkreationen ("Türkenstöpsel" (Ohrhörer), "Winter­hilfs­werk des Wissens" (Wikipedia), "Presskornriegel", "Heimseite") und Hinter­sinnig­keiten ("Das Thema ,Juden' ist nicht witzig." - "Es war nicht alles schlecht."). Anfangs auf harmlos-naive Situations­komik getrimmt, wird der Ton schon bald bissiger, und die Satire packt zu. Der problematische Protagonist zwingt den Autor zum Griff in die Giftkiste: das Wörterbuch des Unmenschen ("Zwangslager", "Sonder­behand­lung", "Aufzucht von Flintenweibern", "im Würgegriff der britischen Parasiten der Menschheit", "lebensunwert"). Er lässt Hitler grenzwertige Parolen ausgeben, die bei einem deutschen Leser im Kontext gleich nach dem spontanen Kichern einen Herzstillstand auslösen. Zurzeit wird das Buch in 27 Sprachen übersetzt; im Europäischen Übersetzer-Kollegium im nieder­rheini­schen Straelen plagen sich die Experten mit passenden Übertragungen. Kann es die überhaupt geben? Tabuisierte Begriffe hat jede Sprache, aber Wörter, die reflexartig den Atem gefrieren lassen, weil sie durch den National­sozialis­mus missbraucht und seither schuldgeprägt sind? Ich fürchte, keine Übersetzung kann das Leseerlebnis verschaffen, das uns Deutsch­spra­chige gleichzeitig auflachen und erschaudern lässt.

Bedenken, Vermes veralbere möglicherweise die Jahr­hundert­ver­brechen und verharmlose sie dadurch, halte ich aus mehreren Gründen für überzogen.
Der Ich-Erzähler charak­terisiert sich selbst in gewohnt markiger Weise; zwischen den Zeilen aber entlarvt er, ironisch gebrochen sozusagen, seine diabolischen Züge: "Ich werde in der Krise kaltblütiger [...]. Ich arbeite [...] wie eine Maschine." Wir Nachgeborenen erkennen in der historischen Rückschau, wie falsch und hohl seine Fassade ist (war).
Niemand in der Gesellschaft, in der A.H. seinen Weg sucht, nimmt ihn ernst. Er wird als coole Nummer, als Comedian durchgereicht ("Das ist der andere Stromberg. Der aus Switsch"); beim Fernsehsender MyTV stiehlt er dem türkisch­stämmi­gen Komiker Ali Wizgür die Show als Hitler-Imitator; die alten Demagogen­sprüche taugen nur als Quotenbringer. Am Ende erhält er den Grimme-Preis für ein NPD-Special. Ein richtiger Beruf? Da schlägt man ihm vor, doch Maler oder Architekt zu werden - wohl wissend, dass er auf beiden Gebieten allenfalls Amateurhaftes zu bieten hat.

Für mich ist "Er ist wieder da" Zeichen einer - trotz aller Unkenrufe - funk­tionie­ren­den Freiheit und gefestigten Demokratie in unserem Lande: Ungestraft darf es unsere gesell­schaft­liche Gegenwart auf breiter Front zerpflücken, in Frage stellen, ins Lächerliche ziehen, und das ausgerechnet, indem es sie unverblümt an den "Werten" unserer dunkelsten Vergangenheit spiegelt, die so viele doch lieber verstecken, totschweigen würden.

Dass dieses kühne Unterfangen zu einem derart brillanten Coup geriet, liegt natürlich an Timur Vermes' über­raschen­der­weise bislang noch nicht ins Rampenlicht geratenen Talent: Sein intelligentes Buch ist frech, kenntnisreich, lakonisch, scharfsinnig, voller treffsicher platzierter Anspielungen - und unglaublich witzig.

Übrigens: Das Hörbuch liest "der andere Stromberg" Christoph Maria Herbst. Er bemüht sich (ver­ständ­licher­weise), Hitlers Tonfall und rumpelndes Rollen zu imitieren, traut sich aber nicht so richtig. Ohnehin trägt die Masche nicht über Stunden hin, und viele Feinheiten bekommt man zuhörend nur halb mit. Lesen Sie besser selber - das ist vergnüglicher.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2013 aufgenommen.


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Kommentare

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Zu »Er ist wieder da« von Timur Vermes wurden 1 Kommentare verfasst:

Ali Singu schrieb am 26.08.2013:

Ich habs heute morgen meiner Gattin weitergereicht. Nach durchlesener Nacht, aufs Beste unterhalten.

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