Ein Engländer in Verona
Morris Duckworth hat es fast geschafft. Er ist in Bella Italia angekommen, wo das Sonnenlicht fließt, die Brunnen plätschern, stolze Fassaden seit Jahrhunderten prangen und die Menschen während ihrer täglichen passeggiata Stil und Gelassenheit zur Schau stellen. Noch gehört er nicht dazu – seine Mittel reichen nur für eine preiswerte Mietwohnung in Montorio, einem Außenbezirk von Verona –, aber sein Ziel ist gesteckt: ein ungezwungenes, heiteres Leben in Wohlstand als Mitglied der feinen Kreise dieses paradiesischen Landes.
Der Blick zurück auf das bereits zurückgelegte große Wegstück amüsiert ihn. Geboren in einer der zahllosen düsteren Reihenhaussiedlungen Englands, wo sein saufender Vater die geliebte Mutter frühzeitig ins Grab geprügelt hatte, konnte sich das »brave Muttersöhnchen«, der »Angepasste« und »Streber« schließlich befreien. Der »Sohn der Arbeiterklasse« würde die »Gewerkschaftsmentalität« des Vaters nicht übernehmen, und am allerwenigsten würde er dessen pragmatischen Ratschlag vom »Auf-dem-Teppich-Bleiben« befolgen. Ihn trieb eine Sehnsucht, aufzusteigen »in lichte Höhen«.
Gern lässt er sich durch schier unerträgliche abendliche Quiz-Sendungen des BBC World Service daran erinnern, »warum man da abgehauen war«. So richtig zieht Morris vom Leder, wenn er auf seine Landsleute zu sprechen kommt, die ihm in seiner neuen Heimat zuhauf begegnen: »wahre Dickens-Figuren«, »gebückt«, aber stolz auf ihre Falklands-erprobte working-class-Leidensfähigkeit. Am intensivsten erleben sie ihre Armut, wenn sie im Fernsehen das Leben der wahren Reichen, vor allem der Royals, voyeuristisch aufsaugen oder sich »in einem schönen, sonnigen Land wiederfanden«. Diesem ewigen Gejammer wollte Morris ein für allemal entfliehen.
Seit nunmehr zweieinhalb Jahren verfolgt der junge Engländer in Verona ehrgeizig sein Ziel des gesellschaftlichen Aufstiegs. Über den Tag und die Stadt verteilt, gibt Morris den verwöhnten, faulen, dummen Kindern der wohlhabendsten Familien vier Stunden privaten Nachhilfeunterricht in Englisch. Als niederer Dienstleister wird er natürlich kaum eines Blickes gewürdigt, und von Reichtum und Karriere wird er trotz größter Leistungsbereitschaft ausgeschlossen bleiben. Frustration über die Ungerechtigkeit der »zufälligen Geburt« setzt ihm zu, er droht in die Klassenkampfmentalität seiner Herkunft zurückzufallen.
Doch schnell korrigiert er sich: Die reiche italienische Oberschicht ist ihm gar nicht so verhasst, dass er sie vernichten wollte. Vielmehr bewundert er doch ihren Stil, ihre Lebensart. Die Frage ist nur, wie er sich auf geschickte Weise Einlass verschaffen kann – vielleicht als überzeugender Hochstapler? Darüber lohnt es sich nachzudenken.
Massimina Trevisan könnte »das große Los« auf seinem Wege sein. Die Siebzehnjährige ist ein hoffnungsloser Fall, was ihr Sprachtalent und sämtliche schulische Erfordernisse angeht, aber ihre Familie schöpft dank eines Weinguts und anderer Besitztümer aus dem Vollen. Vor allem aber fliegt das Mädchen förmlich auf ihren Nachhilfelehrer (»Morriiees, quanto sei dolce!«) und hat soeben gar den Wunsch geäußert, »seine fidanzata zu werden«.
Zum Antrittsbesuch bei Mutter Luisa Trevisan erscheint Morris mutig entschlossen, seine Chance zu ergreifen, »den alten Drachen« zu verzaubern und die gesamte Familie, die Schwestern und den Schwager (einen Geflügelbaron) von sich zu überzeugen. Doch trotz seiner Bestform blitzt Morris eiskalt ab, und das sogar in schriftlicher Form. Die Familie habe beschlossen, und Massimina stimme dem zu, »dass Sie nicht der richtige Umgang für sie sind«.
Doch Morris ist schon zu italienisch geworden, um sich leicht unterkriegen zu lassen. Neben perfektem Italienisch hat er auch gelernt, mit einer eigenartigen neuen Freiheit zu denken, alle sich bietenden Möglichkeiten wertfrei zu prüfen, mehr aus sich herauszugehen. Wie leicht war es ihm bereits bei seiner Herfahrt ins sonnige Italien gefallen, aus dem Zugabteil den feinen ledernen Aktenkoffer eines distinguierten Herrn mitgehen zu lassen. Hatte er dabei nicht schon »italienisch gedacht«? Seither verleiht ihm der sorgsam gepflegte Koffer einen »professionellen Anstrich«, wenn er bei den noblen Herrschaften als Hauslehrer antritt.
So erkennt Morris bislang verborgene Talente an sich, und die soll man nicht vergeuden, sondern nutzen. Der Koffer barg unter anderem das intime Tagebuch seines Eigentümers, einen aufschlussreichen Terminkalender, aus dem Morris geschickt einen Plan ableitet, »ein echtes Kabinettstückchen, [...] eine Herausforderung für Fantasie und Verstand«. Schnell ist ein Brief verfasst und abgeschickt, und schon schliddert Morris Duckworth in sein erstes Verbrechen. Weitere werden folgen und auch blutige Kollateralschäden zeitigen.
Obwohl signora Trevisans Abfuhr unmissverständlich war, beschert das Schicksal Morris eine zweite Chance, denn die Liebe ihres Töchterchens ist ungebrochen. Mit fliegenden Fahnen und einer beträchtlichen Geldsumme will Massimina mit ihrem Geliebten durchbrennen, um ihn, sobald sie volljährig wird, zu ehelichen. So ein Geschenk des Himmels kann Morris nicht verachten, nur den letzten Schritt ihres Ansinnens teilt er nicht unbedingt. Hinter dem Rücken seiner fidanzata nimmt er äußerst geschickt (und natürlich nicht unter seinem verhassten Namen Duckworth) Kontakt mit Mutter Trevisan auf und unterbreitet ihr ein verwegenes Geschäftsangebot ...
Morris Duckworth ist ein krimineller Soziopath, aber ein gebrochener Held, etwas tölpelhaft, nicht skrupellos genug für seine etwas zu groß gewählten Projekte, so dass ihm das schlechte Gewissen schon mal auf Magen, Darm und Nervensystem schlägt. Sein Autor Tim Parks, 1954 in Manchester geboren, in Cambridge und Harvard akademisch ausgebildet, lebt seit 1981 bei Verona. Mittlerweile Dozent für literarisches Übersetzen, musste auch er zu Anfang der Achtzigerjahre erst einmal das Tal deprimierender Erfahrungen als schlecht bezahlter Englischlehrer durchschreiten, und auch seine ebenso intelligenten wie unterhaltsamen Krimi-Komödien aus der Veroneser high society, mehr amüsant als prickelnd spannend, mussten Startschwierigkeiten überwinden. Inzwischen ist die Reihe zu einer bemerkenswerten Trilogie herangewachsen, die der Kunstmann-Verlag aus München in der Übersetzung von Lutz-W. Wolff mit knalligem Cover im Comic-Stil als wahre Hingucker präsentiert:
• »Der ehrgeizige Mr Duckworth« (Mai 2015; bereits 1991 unter dem Titel »Italienische Verhältnisse« erschienen) – Originaltitel: »Cara Massimina« (1990)
• »Mr Duckworth wird verfolgt« (Juli 2015; bereits 1997 unter dem Titel »Mimis Vermächtnis« erschienen) – Originaltitel: »Mimi's ghost« (1995)
• »Mr Duckworth sammelt den Tod« (September 2015) – Originaltitel: »Painting Death« (2014)