Doppelbödiger Genuss
Ein tolles Geburtstagsgeschenk! Weil die Zehnerstelle seines Alters im Januar auf die Ziffer »5« gesprungen ist, sitzt Willibald Adrian Metzger, Restaurator und Hobbykriminologe mit literarischem Kultstatus, jetzt im Nachtzug Wien-Jesolo. Freiwillig hätte er sich wohl niemals zu jenem Hausstrand Venedigs gegenüber der Lagunenstadt aufgemacht. Doch dies ist ein Sammelgeschenk von Verwandten und Freunden, dem man sich fügen muss. Dahinter steckt, neben ihm sitzt, mit ihm reist und davon profitiert, wie Metzger wohl bewusst ist, in erster Linie seine Lebensabschnittsgefährtin Danjela »aus dem Geschlechte Djurkovic.« Er hingegen fühlt sich »schändlich hintergangen«. Bei so einer Aktion, deren Zweck es ist, den Einzelnen zu erfreuen, ist jener Einzelne »nicht zwangsweise der Beschenkte selbst, sondern möglicherweise der Ideenspender«.
Bald lümmelt er auf seinem zugewiesenen Areal in der 47. Reihe, von wo aus man den Strand vor lauter Sonnenschirmen nicht sieht. Rings herum »vollbesetzte Legionen an Liegestühlen. Wie ein in Schlachtordnung befohlenes römisches Heer, bereit, eine anrollende Seemacht aufzuhalten«. Sonnenanbeter dösen, Kinder toben und kreischen. Danjelas Verlockungen, sich wie sie oder gar mit ihr ins kühle Nass zu stürzen, widersetzt er sich standhaft: »Ihn bringen keine zehn Pferde hinein in dieses übervölkerte Gemeinschaftsurinal.«
Während Metzger übellaunig vor sich hingrummelt, nimmt er auch den ambulanten Kommerz wahr. Schon von ferne hört er den melodiösen Canto »Coco bello! Bello coco!« Dann wieder sieht er über den Rand der Sonnenbrille einen proppenvoll behangenen Kleiderständer herbeiwanken. Darunter verbirgt sich einer der vielen schwarzen Strandverkäufer, von den Italienern gerne »Vú cumprá« genannt, die alles feilbieten, was fernöstliche Produzenten billig zu imitieren in der Lage sind.
Da kommen auch bei uns Lesern Erinnerungen auf, vielleicht an eigenes Stranderleben, vielleicht an Gerhard Polts Film »Man spricht deutsh« von 1988, und wir stellen uns auf humorige Kost ein, gewürzt mit urigen Typen, als makabre Beilage ein paar nett angerichtete Leichen, extra vergine und mit Sandkrümeln paniert.
Aber Vorsicht! Bald beschleicht uns das Gefühl, dass es nicht so harmlos weitergeht. Zwar taucht noch ein totes Schoßhündchen Marke Pekinese auf, das im Sand eingebuddelt wurde, nachdem es einer mannstollen Touristin den zur Zeit nicht verfügbaren Latin lover hatte vertreten müssen. Dann folgt ein toter Senegalese, der vermeintlich sicher in einem Plastikspind verwahrt war, nach unerwarteter Öffnung desselben aber leider vornüber auf den heißen Sand kippte.
Damit kippt auch die Stimmung. Das Lachen bleibt uns im Halse stecken, wenn wir die Erzählung des jungen Noah lesen. Mit vierzehn Jahren machte er sich mit seinen Geschwistern auf den Weg, um der Armut in seiner Heimat Senegal zu entfliehen. All ihren Besitz haben Schlepper ihnen abgenommen. Schreckliche Bilder flackern auf von rostigen Seelenverkäufern, deren Decks überquellen mit Schwarzafrikanern. Wenn die tief im Wasser treibenden halben Wracks nicht schon vorher untergegangen sind, landen sie an der Küste Lampedusas an. Im erhofften Wirtschaftwunderland Europa erwartet die leidgeprüften Flüchtlinge alles andere als eine sichere Zukunft. Wie tausende andere haust Noah unter menschenunwürdigen Zuständen, während er als illegale Billigarbeitskraft ausgesaugt wird. (Übrigens: Ein gutes Buch zu diesem Themenkreis ist »Das Meer am Morgen« von Margaret Mazzantini – lesen Sie hier meine Rezension.)
Schließlich erreicht Noah die Adriaküste. Tag für Tag zieht er den Strand hinauf und hinunter, um im harten Konkurrenzkampf Billigramsch zu vertickern. Dabei fällt er auch dem wohlbeleibten und bewegungsarmen Wiener Grantler auf. Metzger hat viel Zeit zum Beobachten und Belauschen, während seine Holde einen Tagesausflug gen Venedig unternimmt. So entwickeln sich verschiedene Handlungsstränge, in deren Dickicht wir uns verheddern, ohne recht erkennen zu können, wo uns der Autor hinführen möchte.
Es sind immer dieselben Männer, die da ständig zusammenhängen. Die Wortfetzen, die Metzger aufschnappt – ein Gemälde mit Pferd, zwei Skulpturen –, suggerieren einen Verdacht: Sind hier Fälscherbanden am Werk, mischen den Kunsthandel auf? Organisiertes Verbrechen? Geldwäsche? Doch wie hängt der Tote am Strand (ein Landsmann Noahs) damit zusammen?
Mit diesen Eindrücken und Fragen kehrt Metzger nach einer Woche samt Danjela nach Wien zurück – und findet dort seine Werkstatt völlig verwüstet vor. Das Verbrechen scheint mitgereist zu sein. Die Herren hatten sich beobachtet gefühlt und ihm eine klare Ansage geschickt, sich gefälligst rauszuhalten.
Jetzt dreht der Autor richtig auf; all die ausgelegten Handlungsfäden verbinden sich zu einem bis zum Schluss kaum zu ahnenden kriminellen Netzwerk, das weltweit agiert, bestens strukturiert und kaum durchschaubar ist. Die Reichsten können hier kaufen, worauf andere vielleicht ein Leben lang warten müssen. Woher die Ware stammt und was für menschliche Kollateralschäden bei der Beschaffung auftreten, wollen die Vermögenden lieber nicht wissen.
Auch Thomas Raabs Sprachstil sorgt für Überraschungen. Nachdem wir uns bei seitenlangen amüsanten und eingängigen Textpassagen ausgeruht haben, geraten wir plötzlich in einen Sprachstrudel, der uns intellektuell und syntaktisch ausbremst. Wenn wir über die ellenlangen Sätze voller Reihungen und Schachtelungen nicht oberflächlich hinwegrutschen, sondern sie wirklich verstehen wollen, müssen wir manches Satzkonstrukt nochmal von vorne beginnen. Haben wir den Schlangenschwanz dann erreicht und das Aha-Erlebnis hat sich eingestellt, möchten wir am liebsten rufen: »Mensch Raab, das hättste auch einfacher haben können!« Aber schließlich finden wir Gefallen an dieser leicht manierierten Sprachkunst, begeben uns auf Satzschatzsuche und wollen die »Rätsel der Sphinx« gleich beim ersten Anlauf lösen.
Thomas Raabs neuester Roman »Der Metzger kommt ins Paradies« hat einen doppelten Boden. Titel und Cover locken unsere Erwartungen auf eine falsche Fährte; der Text gibt sich anfangs als heiterer Sommerkrimi, führt aber dann zu einem beklemmenden Schluss. Eine frappierende Leseerfahrung!