Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste
von Thomas Hettche
Die Geschichte der Familie Oehmichen und ihrer Marionettenbühne, deren Aufführungen über Jahrzehnte Kinder und Erwachsene einer ganzen Nation bezauberten.
Vom Leben im Kasten und dahinter
Bei ganz jungen Mitbürgerinnen und Mitbürgern mag der Begriff »Augsburger Puppenkiste« nicht auslösen, was bei vielen Älteren (wobei ich mich auf eine nähere Definition der Altersgrenzen nicht einlassen will …) unweigerlich einsetzt: ein Kopfkino voller herzerwärmender Emotionen, eine Welle schöner Erinnerungen an gemeinsame Fernseh(halb)stunden der versammelten Familie, an atemloses Schaudern angesichts dräuender Gefahren, an erlösende Entspannung und Freude, wenn ein Abenteuer überstanden war und an ungeduldiges Warten auf die nächste Folge eine ganze lange Woche später. Bei erwachsenen Zuschauern kam noch das Staunen hinzu, wie die Puppenspieler es wohl angestellt haben mögen, in ihrer kleinen Kastenwelt ganze Ozeane, Inseln, Wüsten, Stürme, Drachen und Königshöfe zu verblüffend realistischem Leben zu erwecken. Millionen waren hingerissen von den Erlebnissen Jim Knopfs, Urmels, der Mumin-Familie, des Katers Mikesch und der vielen anderen Helden.
Erstaunlicherweise hat es Jahrzehnte gedauert, bis die bewegende Geschichte der Familie hinter der kleinen Bühne für die Öffentlichkeit erzählt wurde. Dabei hätte, wer immer um den klangvollen Theaternamen herum einen Roman formen wollte, stets auf ein aufnahmebereites, neugieriges Publikum zählen können. Nun hat sich des reizvollen Stoffs, der eine Erfolgsstory, aber auch Tragisches bietet und bislang weitgehend im Verborgenen geruht hatte, ein sensibler Schriftsteller angenommen. Thomas Hettche, mit historischen Romanen bereits bewährt (Lesen Sie meine Rezension zu »Die Pfaueninsel«), hat mit »Herzfaden« ein wunderbares, auch optisch ansprechendes, mit hübschen Federzeichnungen illustriertes und in Leinen gebundenes Buch geschaffen, das man gerne zu Weihnachten verschenkt.
Der Roman hat zwei Handlungsebenen, die farbig unterschiedlich gedruckt sind. Der umfangreichere Teil (blau) erzählt die Geschichte der Familie Oehmichen, die das Marionettentheater einst gegründet und zum Blühen gebracht hat. Parallel dazu entwickelt sich (rot gedruckt) ein zweiter Erzählstrang, der in unserer modernen Zeit spielt und die Magie der spielenden Puppen auf die Zuschauer greifbar macht.
Ein zwölfjähriges Mädchen ist todunglücklich, weil sich ihre Eltern kürzlich getrennt haben. Auch das Marionettenspiel, zu dem sie der Vater eingeladen hat, kann sie nicht trösten. Sie reißt sich von ihm los, verschwindet hinter einer Tür und findet sich bald auf dem riesigen Dachboden, wo unzählige Marionetten aus vielen Stücken aufgehängt sind und mit ihren unheimlichen Geräuschen und Bewegungen im Luftzug zum Leben erwachen und mit ihr sprechen. Schließlich tritt aus dem Dunkel eine feine, altmodisch gekleidete Dame hinzu und stellt sich als »Hatü« vor – es ist Hannelore Marschall-Oehmichen (1931-2003), Tochter des Theatergründers, spätere Leiterin der »Puppenkiste« und Schnitzerin von über sechstausend Figuren.
Damit wechselt die Erzählung zu den Ursprüngen der Familie. Walter Oehmichen, Schauspieler am Theater Augsburg, hatte in Berlin seine große Liebe und spätere Ehefrau Rose Mönning kennengelernt. Chronologisch geradlinig gestaltet der Autor die Entwicklung von 1939 bis in die Sechzigerjahre. Dabei wechseln Politik, Kriegserlebnisse, Privates und das Zart-Märchenhafte des Puppenspiels, wie es in der Familie mit viel Engagement und Zusammenhalt entsteht. Die Schauplätze wechseln von einem Lazarett in Frankreich, wo Walter bei seinen traumatisierten Kameraden erstmals die magisch befreiende Wirkung seines Spiels mit einfachsten selbstgebastelten Puppen erlebt, bis nach Augsburg, wo Tochter Hatü zwar behütet aufwächst, aber doch nicht vor schlimmen Erlebnissen mit den entsetzlichen Machenschaften der Nazis beschützt werden kann. Sie schlagen sich in einer der ersten Figuren nieder, die das kleine Mädchen während der Kinderlandverschickung schnitzt: ein Kasperl, nicht lustig, sondern mit einem Gesicht zum Fürchten.
Das grinsende Kasperl treibt auch mit dem kleinen Mädchen in der Märchenwelt sein Unwesen. Er entreißt ihr das iPhone, drückt auf den Homebutton, nimmt es zum Schrecken aller mit sich und wird sein böses Spiel so lange treiben, bis er erlöst wird.
Vielschichtig differenziert Hettche, wie unterschiedlich die Menschen in den Aufbaujahren der Bundesrepublik mit ihrer Vergangenheit umgehen. Es sind Zeiten des Hungers, der Not und harter Arbeit, auf den Straßen sieht man »Trümmerfrauen« und traumatisierte Kriegsversehrte. Viele wollen einfach vergessen, manche leugnen ihre Schuld, verdrängen oder schieben ihre Verantwortung auf das System, andere haben auf wundersame Weise schon wieder Positionen zurückerobert, die sie im Dritten Reich eingenommen hatten. Die Oehmichens konzentrieren sich darauf, den Menschen – alten und jungen – unterhaltsame Stunden der Abwechslung zu bieten und dabei gute, anspruchsvolle Kulturarbeit zu leisten.
Nichts an diesem Buch ist zufällig oder überflüssig, auch der zweifarbige Druck ist keine dekorative Spielerei. Wir lesen, was Walter Oehmichen seinen Töchtern erklärt: Rot sei die Farbe der Menschen und des Lebens, die Farbe der Marionetten sei dagegen Blau, denn sie haben kein Blut. Dennoch gibt es etwas, was ihnen scheinbar Leben einhaucht, und das ist der »Herzfaden«, »der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird von ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.«
Thomas Hettche ist ein zärtlich berührender, tiefgründiger Roman gelungen. Er ruft wohlige Erinnerungen wach, die seit unserer Kindheit (oder Elternzeit) in uns schlummern, löst vor unserem inneren Auge Bilder von eigenartig hampelnden, amüsant plappernden Holzfiguren mit ausgeprägten Charaktern aus, ohne uns jedoch zu oberflächlicher Nostalgie und billiger Rührseligkeit zu verführen. Vielmehr erdet er gewissermaßen die wunderbaren Stunden, die wir verzaubert am Fernseher oder gar im Theater verbrachten, indem er die herbe Realität aufzeigt, die zu deren Gestaltung bewältigt werden musste.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2020 aufgenommen.