Rezension zu »Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste« von Thomas Hettche

Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste

von


Die Geschichte der Familie Oehmichen und ihrer Marionettenbühne, deren Aufführungen über Jahrzehnte Kinder und Erwachsene einer ganzen Nation bezauberten.
Historischer Roman · Teil der Serie »Weihnachtliches« · Kiepenheuer & Witsch · · 288 S. · ISBN 9783462052565
Sprache: de · Herkunft: de

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Gebundene Ausgabe E-Book Hörbuch CD

Vom Leben im Kasten und dahinter

Rezension vom 02.12.2020 · 10 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Bei ganz jungen Mitbürgerinnen und Mitbürgern mag der Begriff »Augs­burger Puppen­kiste« nicht auslösen, was bei vielen Älteren (wobei ich mich auf eine nähere Defini­tion der Alters­grenzen nicht einlassen will …) unweiger­lich einsetzt: ein Kopfkino voller herz­erwär­mender Emotionen, eine Welle schöner Er­innerun­gen an gemein­same Fernseh­(halb)­stunden der versam­melten Familie, an atemloses Schaudern ange­sichts dräuender Gefahren, an erlösende Entspan­nung und Freude, wenn ein Abenteuer über­standen war und an ungedul­diges Warten auf die nächste Folge eine ganze lange Woche später. Bei erwach­senen Zuschau­ern kam noch das Staunen hinzu, wie die Puppen­spieler es wohl ange­stellt haben mögen, in ihrer kleinen Kasten­welt ganze Ozeane, Inseln, Wüsten, Stürme, Drachen und Königs­höfe zu verblüf­fend realis­tischem Leben zu erwecken. Millionen waren hinge­rissen von den Erleb­nissen Jim Knopfs, Urmels, der Mumin-Familie, des Katers Mikesch und der vielen anderen Helden.

Erstaunlicherweise hat es Jahrzehnte gedauert, bis die bewegende Geschichte der Familie hinter der kleinen Bühne für die Öffent­lichkeit erzählt wurde. Dabei hätte, wer immer um den klang­vollen Theater­namen herum einen Roman formen wollte, stets auf ein aufnahme­bereites, neugie­riges Publikum zählen können. Nun hat sich des reiz­vollen Stoffs, der eine Erfolgs­story, aber auch Tragi­sches bietet und bislang weit­gehend im Verbor­genen geruht hatte, ein sensibler Schrift­steller angenom­men. Thomas Hettche, mit histori­schen Romanen bereits bewährt (Lesen Sie meine Rezension zu »Die Pfauen­insel«), hat mit »Herzfaden« ein wunder­bares, auch optisch anspre­chendes, mit hübschen Feder­zeichnun­gen illustrier­tes und in Leinen gebun­denes Buch geschaf­fen, das man gerne zu Weihnachten ver­schenkt.

Der Roman hat zwei Handlungsebenen, die farbig unter­schied­lich gedruckt sind. Der umfang­reichere Teil (blau) erzählt die Geschichte der Familie Oehmi­chen, die das Mario­netten­theater einst gegründet und zum Blühen gebracht hat. Parallel dazu ent­wickelt sich (rot gedruckt) ein zweiter Erzähl­strang, der in unserer modernen Zeit spielt und die Magie der spielen­den Puppen auf die Zuschauer greifbar macht.

Ein zwölfjähriges Mädchen ist todun­glücklich, weil sich ihre Eltern kürzlich getrennt haben. Auch das Marionet­tenspiel, zu dem sie der Vater einge­laden hat, kann sie nicht trösten. Sie reißt sich von ihm los, verschwin­det hinter einer Tür und findet sich bald auf dem riesigen Dachboden, wo unzählige Mario­netten aus vielen Stücken aufge­hängt sind und mit ihren unheim­lichen Geräu­schen und Bewe­gungen im Luftzug zum Leben erwachen und mit ihr sprechen. Schließ­lich tritt aus dem Dunkel eine feine, alt­modisch geklei­dete Dame hinzu und stellt sich als »Hatü« vor – es ist Hannelore Marschall-Oehmichen (1931-2003), Tochter des Theater­gründers, spätere Leiterin der »Puppen­kiste« und Schnit­zerin von über sechs­tausend Figuren.

Damit wechselt die Erzählung zu den Ursprüngen der Familie. Walter Oehmi­chen, Schau­spieler am Theater Augsburg, hatte in Berlin seine große Liebe und spätere Ehefrau Rose Mönning kennen­gelernt. Chrono­logisch gerad­linig gestaltet der Autor die Entwick­lung von 1939 bis in die Sechziger­jahre. Dabei wechseln Politik, Kriegs­erleb­nisse, Privates und das Zart-Märchen­hafte des Puppen­spiels, wie es in der Familie mit viel Engage­ment und Zusam­menhalt entsteht. Die Schau­plätze wechseln von einem Lazarett in Frank­reich, wo Walter bei seinen trauma­tisierten Kame­raden erstmals die magisch befrei­ende Wirkung seines Spiels mit einfach­sten selbst­gebastel­ten Puppen erlebt, bis nach Augsburg, wo Tochter Hatü zwar behütet aufwächst, aber doch nicht vor schlimmen Erleb­nissen mit den entsetz­lichen Machen­schaften der Nazis beschützt werden kann. Sie schlagen sich in einer der ersten Figuren nieder, die das kleine Mädchen während der Kinder­landver­schickung schnitzt: ein Kasperl, nicht lustig, sondern mit einem Gesicht zum Fürchten.

Das grinsende Kasperl treibt auch mit dem kleinen Mädchen in der Märchen­welt sein Unwesen. Er entreißt ihr das iPhone, drückt auf den Home­button, nimmt es zum Schrecken aller mit sich und wird sein böses Spiel so lange treiben, bis er erlöst wird.

Vielschichtig differenziert Hettche, wie unterschiedlich die Menschen in den Aufbau­jahren der Bundes­republik mit ihrer Vergangen­heit umgehen. Es sind Zeiten des Hungers, der Not und harter Arbeit, auf den Straßen sieht man »Trümmer­frauen« und trauma­tisierte Kriegs­versehrte. Viele wollen einfach vergessen, manche leugnen ihre Schuld, verdrän­gen oder schieben ihre Verant­wortung auf das System, andere haben auf wunder­same Weise schon wieder Positio­nen zurück­erobert, die sie im Dritten Reich einge­nommen hatten. Die Oehmi­chens konzen­trieren sich darauf, den Menschen – alten und jungen – unterhalt­same Stunden der Abwechs­lung zu bieten und dabei gute, anspruchs­volle Kultur­arbeit zu leisten.

Nichts an diesem Buch ist zufällig oder überflüssig, auch der zweifar­bige Druck ist keine dekora­tive Spielerei. Wir lesen, was Walter Oehmichen seinen Töchtern erklärt: Rot sei die Farbe der Menschen und des Lebens, die Farbe der Mario­netten sei dagegen Blau, denn sie haben kein Blut. Dennoch gibt es etwas, was ihnen scheinbar Leben einhaucht, und das ist der »Herzfaden«, »der wich­tigste Faden einer Mario­nette. Nicht sie wird von ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Mario­nette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer fest­gemacht.«

Thomas Hettche ist ein zärtlich berührender, tiefgründiger Roman gelungen. Er ruft wohlige Erinne­rungen wach, die seit unserer Kindheit (oder Eltern­zeit) in uns schlum­mern, löst vor unserem inneren Auge Bilder von eigen­artig hampeln­den, amüsant plappern­den Holz­figuren mit ausge­prägten Charak­tern aus, ohne uns jedoch zu ober­fläch­licher Nostalgie und billiger Rühr­selig­keit zu verführen. Vielmehr erdet er gewisser­maßen die wunder­baren Stunden, die wir verzau­bert am Fern­seher oder gar im Theater verbrach­ten, indem er die herbe Realität aufzeigt, die zu deren Gestal­tung bewältigt werden musste.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Liebling­sbücher im Herbst 2020 aufgenommen.


Weitere Artikel zu Büchern von Thomas Hettche bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Die Pfaueninsel«

go

Weitere Artikel zu der Serie Weihnachtliches bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »24 x Charles Dickens für den Advent«

go

Rezension zu »Carl Tohrbergs Weihnachten«

go

Rezension zu »Das Geheimnis des Weihnachtspuddings«

go

Rezension zu »Das Mädchen, das Weihnachten rettete«

go

Rezension zu »Das Weihnachtsgeschenk und andere Weihnachtsgeschichten«

go

Rezension zu »Das Weihnachtsmarktwunder«

go

Rezension zu »Den Nächsten, der Frohe Weihnachten zu mir sagt, bringe ich um«

go

Rezension zu »Die großen romanischen Kirchen in Köln«

go

Rezension zu »Die Schneeschwester – Eine Weihnachtsgeschichte«

go

Rezension zu »Die Weihnachtsgeschwister«

go

Rezension zu »Diesmal schenken wir uns nichts: Geschichten für eine entspannte Weihnachtszeit«

go

Rezension zu »Eine Art Bescherung«

go

Rezension zu »Frontal - Häuserfronten«

go

Rezension zu »Geheimnis in Rot«

go

Rezension zu »Geheimnis in Weiß«

go

Rezension zu »Gott baut um«

go

Rezension zu »Irgendwo ist immer jemand, der dich liebt«

go

Rezension zu »Italien um 1900. Ein Porträt in Farbe«

go

Rezension zu »Jul Morde«

go

Rezension zu »Maria, Mord und Mandelplätzchen«

go

Rezension zu »Mit dem Schnee kommt der Tod«

go

Rezension zu »Morgen, Klufti, wird’s was geben«

go

Rezension zu »Nikolausi«

go

Rezension zu »Plötzlich Bescherung und andere (un)weihnachtliche Geschichten«

go

Rezension zu »Schöne Bescherung – Hinterhältige Weihnachtsgeschichten«

go

Rezension zu »Schweig!«

go

Rezension zu »Sternstunde«

go

Rezension zu »Storie di Natale«

go

Rezension zu »Tatort Tannenbaum«

go

Rezension zu »Tödliche Weihnachten«

go

Rezension zu »Und Gott sprach: Du musst mir helfen!«

go

Rezension zu »Weihnachtsherzen«

go

Rezension zu »Weihnachtsmann - was nun?«

go

Rezension zu »Wie der Weihnachtsbaum in die Welt kam«

go

Rezension zu »Winterwind«

go

Rezension zu »Zwei Zebras in New York«

go

Rezension zu »Zwetschgermännla-Morde - 14 Kurzkrimis aus Franken zur Weihnachtszeit«

go

War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste« von Thomas Hettche
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Gebundene Ausgabe E-Book Hörbuch CD


Kommentare

Zu »Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste« von Thomas Hettche wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top