Wenn Engel brennen
von Tawni O’Dell
Im »Rust Belt« von Pennsylvania verrotten nicht nur Industrieruinen, sondern ganze gesellschaftliche Strukturen, und sogar der Untergrund glüht stellenweise. Ein schmucker State Police Officer und die lokale Polizeichefin müssen herausfinden, wie und warum eine Siebzehnjährige aus prekären Verhältnissen in einer Erdspalte verbrennen musste.
Eine von Gott verlassene Gegend
Ein ganzer Landstrich im Osten der USA ist weltweit unter seinem tristen Spitznamen bekannt und als Beispiel für den Niedergang einst florierender Industrien berüchtigt: der »Rust Belt« (Rostgürtel). Als man dort im Jahr 1856 mit dem Abbau der mächtigen Kohlevorkommen begann, setzte ein Strukturwandel ein, der Generationen Arbeit und Wohlstand brachte und das Bild der Region veränderte. Nach eineinhalb Jahrhunderten ist es vorbei mit Kohle, Gruben, Kraftwerken und Industrie. Jetzt aber bleibt der Strukturwandel aus. Das Bisherige stirbt, aber es folgt nichts Neues. Die Menschen verlieren ihre Arbeit, doch niemand bietet ihnen neue. Maschinen verrosten, Fabriken verrotten, Siedlungen verfallen. Armut, soziale Probleme und verlassene Geisterstädte sind die Folge. Hier findet einer, der das Blaue vom Himmel herunter verspricht, seine begeistertsten, verzweifeltsten Anhänger.
Wenig bekannt ist, dass die Vergangenheit ein unheimliches, gewissermaßen lebendes Erbe unter der Erde zurückgelassen hat. Etliche Kohleflöze brennen seit Jahrzehnten in der Tiefe vor sich hin. Wo es am heißesten glüht, bilden sich an der Oberfläche Risse, Spalten und gewaltige Krater reißen auf, giftige Rauchschwaden dringen empor. Hier zu leben ist unmöglich, die Bewohner müssen umgesiedelt werden, denn niemand kann die unterirdische Glut je löschen.
In so einer apokalyptisch anmutenden Gegend hat Tawni O’Dell ihren atmosphärisch dichten und beklemmenden Roman mit dem reißerisch-rätselhaft-verstörenden Titel »Wenn Engel brennen« angesiedelt. Hier, im fiktiven Laurel County, Pennsylvania, liegt die Stadt Buchanan. Die Umsiedler aus dem unbewohnbar gewordenen Campbell’s Run sind die Ärmsten der Armen dort, trostlos, arbeitslos, hoffnungslos, viele von ihnen kriminell und drogenabhängig.
Eine kleine Polizeieinheit soll für Ordnung sorgen, aber ihre Ressourcen sind so kläglich wie ihr Revier, ihr Budget so winzig wie ihr Büro. Chief Dove Carnahan, Leiterin dieser Dienststelle seit zehn Jahren, ist eine außergewöhnliche Ich-Erzählerin. Während die Fünfzigjährige ihren eigenen fünf Officers, allesamt unerfahrene »Frischlinge«, ihr »mütterlichstes Gefühl« schenkt, hat sie von den Kollegen der übergeordneten State Police »sämtliche Spielarten von Ablehnung, Sabotage und Schikanen erlebt, die das Y-Chromosom aufzubieten hat«, behauptet sich jedoch mit Intelligenz, Humor und Selbstironie in ihrer Funktion.
Gleich auf der ersten Seite des Romans führt uns die Autorin zum Ort eines Verbrechens, wie es nur in Campbell’s Run geschehen kann. Nicht nur wir Leser halten den Atem an, selbst die herbeigerufenen Polizisten aus Buchanan müssen sich von dem, was zu sehen ist, abwenden und dem üblen Druck aus der Magengrube nachgeben. Jemand hat ein junges Mädchen »in eins dieser schwelenden Löcher gesteckt.«
So ein Mord ist kein Job für Dove Carnahan und ihre »Kleinstadt-Cops«. Schon rauscht Corporal Nolan Greely in seinem Streifenwagen heran und entsteigt ihm, als komme er aus einem Hollywood-Film: der Prototyp eines State Police Officers, groß, stämmig, humorlos, Bürstenhaarschnitt, Sonnenbrille, ein »berüchtigt harter Hund«. Niemand anders als er ist hier zuständig, und Doves Team (»überschätzte Babysitter« für die Leute in Buchanan) wird aus reiner Höflichkeit zum Briefing geladen.
Die Ermordete ist rasch identifiziert. Camio Truly, 17, stammt aus einer so prolligen wie kriminellen Familie (»die Hälfte ist tot oder im Gefängnis«). Von den acht Truly-Kindern »erreichten sechs das Erwachsenenalter, fünf kamen nicht ins Gefängnis, vier hielten sich vom Crack fern, drei arbeiteten zeitweise, zwei tranken nicht, und einer fand zu Jesus«. Cam, die hellsichtigste der Brut, ertrug ihre verlotterte Sippe wohl schon länger nicht mehr und war fest entschlossen, sich nach dem Highschool-Abschluss abzusetzen. Musste sie deshalb sterben?
Dove Carnahan hatte Verständnis für Cam, denn wie wir per Rückblenden erfahren, ist auch die heutige Ordnungshüterin in einem verwahrlosten Haushalt groß geworden. Ihre Mutter Cissy war, was ihren Körper anging, von einem überzogenen Reinlichkeitsfimmel besessen – wer sonst würde seine Tochter nach seiner Lieblingsseife benennen? –, in allen anderen Belangen, Männerbeziehungen eingeschlossen, hingegen schlampig. Dove war erst fünfzehn, als Cissy einem Mord zum Opfer fiel.
Ehe die Recherchen richtig Fahrt gewinnen, gibt es für alle eine Überraschung, die die Handlung in zwei Stränge teilen wird. Ein Typ namens Lucky taucht auf – kein Geringerer als der verurteilte Mörder von Doves Mutter. Fünfunddreißig Jahre hat der »Glückspilz« für die Tat im Gefängnis gesühnt, jetzt kehrt er nach Buchanan zurück – und behauptet, gar nicht Cissys Mörder gewesen zu sein. Dove und ihre Schwester Neely hätten gelogen, und nur dieser Lüge wegen sei er verurteilt worden. Da stockt dem Leser zum zweiten Mal der Atem, nicht nur wegen der unklaren Verbrechen, sondern wegen Doves merkwürdigen Verhaltens. Es lässt uns erahnen, dass unsere Erzählerin ein Spiel mit uns treibt. Sie scheint mehr zu wissen, als sie uns bislang verraten wollte.
Tawni O’Dell, 1964 in Pennsylvania geboren, liefert spannende und deftige Krimiunterhaltung erster Güte. Messerscharf beobachtet und charakterisiert sie ihre Figuren, deren Erscheinungsbild, Lebensumfeld und Verhalten. Im Zentrum steht eine Protagonistin, die ihresgleichen sucht. Dove Carnahan scheint zwar distanziert zu agieren, doch in Wahrheit ist sie im Milieu ihrer Herkunft verwurzelt geblieben. Deswegen spürt sie sofort, wo es bei den Menschen ihrer Gegend, die mit Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogensucht und Gewalt zu kämpfen haben, kriselt, dass sie ihre Kinder vernachlässigen, manche nicht einmal vor Missbrauch zurückschrecken.
Nicht nur Dove Carnahan ist ein gebrochener Charakter, sondern auch ihr scheinbares Gegenstück, Corporal Nolan Greely, der im Job seine undurchdringliche Sonnenbrille wie einen Schutzschild trägt. »Dabei hat er sanfte Augen im beruhigenden Blau einer Babydecke, umgeben von einem Kranz gutmütiger Alter-Onkel-Falten.« Die beiden verbindet mehr, als man glauben würde, insbesondere ein langjähriges sexuelles Verhältnis. Zwar ist Nolan verheiratet, doch in seiner Ehe läuft seit Jahren nichts mehr. Er lebt stur neben Frau und Kindern her, ohne sie zu beachten, erwartet aber, »dass sie nach getaner Arbeit im Stall auf ihn warten, voller Lob und Zuneigung und mit gefülltem Futtertrog«. Dove, etwas jünger als er, behauptet, »ich komme klar mit meinem Alter«, aber glücklich macht es sie nicht, dass sie, die ab und an sexuelle Gelüste befallen, auf Männer inzwischen wie »ein geschlechtsloser Klops« wirkt. Auch Nolan, der sich seinem »Liebchen« früher leidenschaftlich hingab, pflegt heute eine nüchterne Beziehung zu ihr: Sex »aus heiterem Himmel«, erledigt als gemeinsamer Akt der »Erlösung«, kein Gerede, kein Aufhebens – ganz ihrem alltäglichen beruflichen Pflichtverständnis entsprechend.
Tawni O’Dell ist eine echte Entdeckung im Krimigenre. Lange musste sie kämpfen, bis sie einen Verleger fand, und erst nachdem Oprah Winfrey ihr im Jahr 2000 Lob gezollt hatte, kam der Durchbruch. Seitdem hat sie etwa alle drei Jahre einen Roman veröffentlicht, aber »Angels Burning« (2016) ist der erste der sechs, der ins Deutsche übersetzt wurde (Daisy Dunkel hat großartige Arbeit geleistet). Der Erzählstil der Ermittlerin ist klar, knapp, ironisch, hintergründig. Frappierende Vergleiche sind das Salz in der kohleschwarzen Suppe: »Sie lächelt kaum öfter, als Mom geputzt hat.« – »Ihr Schweigen ist lauter als das Geschrei der meisten Leute.« – Der Nachwuchs von Familien wie die Trulys hat ebenso schlechte Überlebenschancen wie der von Meeresschildkröten, aber »ihr schlimmster Fressfeind ist das eigene mangelnde Urteilsvermögen«.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2019 aufgenommen.