Draußen feiern die Leute
von Sven Pfizenmaier
In einem Städtchen bei Hannover leben neben den Einheimischen Familien aus verschiedenen Kulturkreisen beisammen. Sven Pfizenmaier erzählt mit außergewöhnlichem Witz von den besonderen Schwierigkeiten der Kinder der Zugewanderten. Zwischen der alten und der neuen Heimat fühlen sie sich hin und her gerissen.
Irgendwo ankommen
Das Örtchen bei Hannover ist fiktional wie seine Bewohner und die erzählten Begebenheiten, aber gewiss repräsentativ. Da sind die Leute, die schon immer hier gewohnt haben, und die Neuen, die es von Sonstwoher hierhin verschlagen hat. Im Grunde wollen alle nur eins: ein passables Leben führen. Wenn das mal so einfach wäre …
Im Mittelpunkt dieses außerordentlichen, faszinierenden, weil skurril-komischen und merkwürdig anrührenden Debütromans stehen Russlanddeutsche, die ihre alte Heimat mit ihren Werten und Traditionen nicht vergessen wollen und können, zumal die hier vorgefundene Realität nicht immer ihren Erwartungen entspricht. Ihre Kinder aber möchten Russland hinter sich lassen und in der neuen Heimat Fuß fassen. Ihr jugendliches Lebensgefühl drängt sie zu dem, was hier »in« ist, was »die anderen alle« machen: Medien, Musik, Mode, Jargon, Drogen.
Sven Pfizenmaier, 1991 in Celle geboren, gibt Problemen eine konkrete Gestalt, die als Phänomen der zweiten Generation von Migrantenfamilien seit Langem bekannt sind, systematisch erforscht und oft thematisiert wurden, vor allem in Großbritannien. Die erste Generation – die eigentlichen Einwanderer – weiß in der Regel, was sie will (Arbeit, Geld, bessere Lebensbedingungen, geräuschlose Anpassung) und was sie erwartet (eine Existenz am Rande der Gesellschaft, Rechtlosigkeit, wenig Chancen, Hoffnung auf eine bessere Zukunft). Ihre Kinder sitzen dagegen zwischen allen Stühlen. Sie wollen mehr und anderes, erhalten aber wenig, und das von allen Seiten.
Für sein Porträt verstärkt der Autor den Aspekt der Fremdheit noch mit seinen erzählerischen Mitteln. Er spitzt das, was man an Charakteren, Erscheinungsbildern und Lebensverhältnissen in der Realität antreffen mag, derart zu, dass seine Figuren und ihre Welt außerhalb dessen landen, womit sich die alteingesessenen Niedersachsen, ob jung oder alt, noch zu arrangieren vermögen. An gutem Willen mangelt es ihnen nicht, aber es stellen sich zu große Schwierigkeiten in den Weg.
Der Autor nimmt die Nöte seiner halberwachsenen Protagonisten ernst, auch wenn er Auswüchse und bizarre Verirrungen als solche offenlegt. Da kommt es zu urkomischen Szenen, grotesken Charakterisierungen, bitterbösen Spitzen, aber die Personen werden nicht zu Lachnummern degradiert. Das ist natürlich eine Gratwanderung.
Hat der kleine Ort auf dem flachen Land überhaupt das Potenzial, um für irgend jemanden eine neue Heimat zu werden? Aus der Luft betrachtet ist er »ein Fadenkreuz«. Aus einem »Kreisel im Zentrum [fließt] eine Straße in jede Himmelsrichtung […] wie Kapillaren von den vier Hauptverkehrsarterien«. Außer einer Volksbank, einer Polizeistation und einer Schule gibt es keine Attraktionen, die den Bewohnern aus diversen Kulturkreisen Glück verheißen könnten. Satisfaktion verschaffen sich viele von ihnen insbesondere, indem sie Individuen anderer Gruppen piesacken. Zumindest vermag ein kurzweiliger Reigen wenigstens die Langeweile zu vertreiben: Russen verabreden sich mit Albanern zum Schlagen, »die Albaner mit den Türken, die Türken mit den Kurden, die Kurden mit den Deutschen, die Deutschen mit den Russen«. Auf dem alljährlichen »Zwiebelfest« erweist sich, dass der disparate Mikrokosmos das Leben durchaus zu genießen weiß, wobei die Jugend gern kiffend herumlungert oder sich zu einer Garagenparty absondert.
Die meisten der Helden in diesem Habitat sind maskuline Halbwüchsige. Aber Timo, der zentrale Protagonist, fällt schon insofern aus dem Rahmen, als er die Oberstufe der Gesamtschule besucht und kurz vor dem Abitur steht. Auch wegen seines eigenartigen Erscheinungsbildes ist er ein Außenseiter. Wie bei Spätpubertierenden nicht unüblich, mag er seinen Körper selber nicht. Er »hat die Gliedmaßen einer Pflanze, rankenartige Arme und Beine, blass grünliche Haut und orangegelbes Haar, das wie eine Blüte auf dem Kopf leuchtet. Sogar seine Bewegungen erinnern an die niedersächsische Vegetation«. Mobbing begleitet ihn seit Jahren. Nur Jenny hat kein Problem, mit einem »Pflanzenmenschen befreundet zu sein«. Auch die sehr gute Schülerin ist nicht sonderlich beliebt, aber seit ihre jüngere Schwester Flora verschwunden ist, hat sie gewichtigere Sorgen.
Ein weiterer bemerkenswerter Mitschüler ist Richard Holder. Der nimmt es mit der Anwesenheitspflicht in der Schule nicht so genau. Zwischendrin verlässt er den Pausenhof und raucht eine Runde Gras, um »sich soweit runterzukiffen, bis er genauso gelangweilt war wie die anderen«. Dabei hat er schon seit Kindergartenzeiten eine Ausstrahlung, die den Menschen in seiner Umgebung jegliche »Energie aussaugt«.
Den Erziehungsberechtigten bleiben angesichts solchen Nachwuchses nicht viele Optionen. Selbst der stets bemühten Frau Holder »fallen die Augen zu, wenn ich dich sehe«. Am freien Wochenende sucht sie deshalb gern das Weite und lässt den Jungen mit sich selbst zurück. Das würde sich Evgenija Waldmann nicht erlauben. Zu groß sind ihre Sorgen um die seelische Gesundheit ihrer Tochter Valerie. Die Waldmanns waren schon Mitte dreißig, als sie, ohne ein Wort Deutsch im Gepäck, hierher kamen. In dem Haus, das sie sich bauten, hängen überall Erinnerungsstücke, die ihre kasachischen Wurzeln konservieren. Hier wurde Valerie geboren. Jetzt schläft und träumt, träumt und schläft das Mädchen, Woche um Woche. Die Ärzte, die Evgenija konsultiert hat, reden von Traumata und verschreiben Medikamente.
Dass die »vielen Kleinigkeiten«, die das Mädchen bedrücken, mit Zerrissenheit und verworrenen Heimatgefühlen zu tun haben, ahnen vielleicht viele, aber was soll Evgenija (die zu Esoterik neigt) konkret tun? Während Valerie im Kindergarten und in der Schule seit jeher deutsch spricht wie die anderen Kinder, redet sie mit den Eltern russisch. Das führt zu paradoxen Situationen, etwa wenn die Leute im Supermarkt tuscheln und Evgenija ihr zuraunt: »Russisch darfst du hier nicht sprechen, das ist peinlich.« Später, als Valerie sich längst die »russische Zunge abzubeißen« versucht, verspricht ihr die Mutter zwanzig Pfennig für jedes Wort, das die Tochter russisch spricht. Während der deutsche Freund es »cool« findet, dass sie Russin ist, gilt sie bei den russischen Kumpanen als ganz schön deutsch. Wie soll eine Heranwachsende damit fertig werden, »dass das Wort ›Zuhause‹ außerhalb des Hauses das Haus meint und innerhalb des Hauses ein anderes Land«, dass die Familie »ein Leben in der Gesellschaft als ein Leben ohne die Gesellschaft« führt? An einem Ort, »an dem kein wir mich mitmeint«, will sie nicht mehr sein.
Während die Waldmanns alles daransetzen, sich zu integrieren, indem sie sich deutscher geben als die Deutschen, haben sich andere Familien in einem »Zwei-Welten-System« eingerichtet: »Die sowjetische Welt, die man eigenhändig mitgebracht hat, ist das Zuhause, und die deutsche, in die man geraten ist, liegt vor der Tür.« Drei russische Jugendliche, die – anders als Valerie – in Kasachstan geboren wurden, kommen damit problemlos klar. Sie sind nicht die hellsten Kerzen auf der multikulturellen Torte, haben aber ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt und schon seit Beginn ihrer kleinkriminellen Karriere die Aufmerksamkeit des Dorfwachtmeisters auf ihrer Seite.
In letzter Zeit hat der Polizist allerdings größere Probleme auf dem Schreibtisch und auf dem Herzen, denn es sind etliche Mädchen und Frauen spurlos verschwunden – vor Kurzem auch Flora, seine jüngere Tochter –, und ihm obliegt es, die Fälle aufzuklären. Bedrängt von der Sorge, auch seine Älteste zu verlieren, erwägt er einen Deal mit den drei russischen Dödeln in seiner Obhut. Vielleicht lassen sie sich darauf ein, auf seine Jenny aufzupassen, wenn er über ihre grasgrünen Geschäftsbeziehungen nach Hannover hinwegsieht?
Der Autor schöpft für Handlung und Personengestaltung aus einem überbordenden Füllhorn kreativer Einfälle. Zwischen Realismus, Überspitzung, Witz, Karikatur, Fantastik und Ernsthaftigkeit der Analyse spielt er auch mit mythischen Chiffren wie dem sagenhaften Sehnsuchtsort Avalon und archetypischen Gestalten wie Großmutter Else, einem anderthalb Jahrhunderte alten Hort menschlicher und übermenschlicher Weisheiten, die mit einem einzigen Atemzug pro Tag auskommt (»Niemals in den eigenen vier Wänden ein Lied pfeifen, sonst droht die Armut.«). Irreales und Absurdes wechseln und vermischen sich geschmeidig mit der harten kriminellen Wirklichkeit von Drogen- und Menschenhandel, effektvoll karikiert in der Figur von »Rasputin«, dem »Superdrogenboss«.
Und in all diesen Leseabenteuern verzaubern immer wieder überraschende poetische Stimmungen den durchwachsenen Alltag der Figuren. Wo am Ortsschild die Straßenbeleuchtung endet, bricht nicht unbedingt hoffnungslose Dunkelheit herein. Über die weiten Felder verteilt drehen sich Dutzende Windräder, und jedes »hat diese blinkende rote Lampe auf dem Kopf. Wenn der Mond nicht scheint, dann sind die Windräder […] beinahe unsichtbar, und es bleiben nur diese roten Lampen, die nicht einmal synchron blinken, sondern jede im eigenen Takt, [und man] sieht nichts als einen Schwarm durcheinanderblinkender Lichter, die wie von selbst in der Luft schweben.«
Dieses Buch (mit dem »aspekte«-Literaturpreis 2022 ausgezeichnet) habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2022 aufgenommen.