Florence Butterfield und die Nachtschwalbe
von Susan Fletcher
Nach einem schlimmen Sturz muss Florence Butterfield ins Seniorenheim umziehen, verliert aber nicht ihren Lebensmut. In ihrer neuen Umgebung fühlt sie sich bald sehr wohl. Als ein älterer Herr zu Tode stürzt und kurze Zeit später auch die Heimleiterin, deren Vertrauen sie gerade erst gewonnen hatte, spürt die kluge alte Dame ihrem Verdacht nach, dass ein Verbrechen geschehen sei.
Drei Stürze
Diesem ungewöhnlich facettenreichen Roman gerecht zu werden ist keine einfache Sache. Fest steht, dass er ein erzählerisches Glanzstück ist – stilistisch leichtfüßig und doch atmosphärisch dicht und poetisch, thematisch ernst und tiefgründig, im Grundton besinnlich bis melancholisch, zugleich unterhaltsam, abwechslungsreich und spannend in seinem Plot, mit einer Vielzahl ungewöhnlicher, sympathischer Figuren, deren Innenleben einfühlsam gezeichnet ist, so dass sie nachhaltig in Erinnerung bleiben. Andererseits mögen Setting – ein englisches Altersheim – und seine Bewohner in vorgerücktem Alter mit allerlei Beschwerden, Missgeschicken und unglücklichen Biografien manche Leserkreise eher abschrecken. Das wäre schade, denn sie lassen sich ein eindrucksvolles Leseerlebnis entgehen.
Die Protagonistin heißt Florence (»Florrie«) Butterfield und ist stolze 87 Jahre alt. Vor sechzehn Monaten beendete ein Sturz ihr bis dahin selbstbestimmtes, aufregendes Leben. Verbrennungen und eine Teilamputation des linken Beins machten sie zum Pflegefall. In der Seniorenresidenz Babbington Hall bezog sie ein barrierefreies Zimmer. Ihr neues Umfeld im idyllischen, wenn auch etwas verfallenen Herrenhaus mit Park ist nicht unproblematisch: Die meisten Mitbewohner sind nicht minder pflegebedürftig, hadern mit ihrem Schicksal, mäkeln den lieben langen Tag und sind in ihrer Egozentrik gefangen. Nicht so Florrie Butterfield. Dank ihres optimistischen, pragmatischen Wesens begrüßt sie jeden neu anbrechenden Tag als ein »Wunder«, das mit überraschenden Ereignissen, Begegnungen und Gesprächen angefüllt sein wird. Dass das Heim für alle Gäste die letzte Lebensstation ist, kommt ihr nicht in den Sinn. Stattdessen vermag sie jeder Situation etwas Positives abzugewinnen, begegnet den Menschen aufgeschlossen und vorurteilsfrei. Auch dem Personal gegenüber zeigt sie viel Verständnis für die vielfältigen Anforderungen. Am liebsten unter den Pflegerinnen ist ihr die junge Magda, die »lässige Kriegerkönigin« mit ihren Ringen, lackierten Nägeln, Tattoos und gefärbten Haaren.
Was niemand geahnt haben kann, ist, dass die geistig agile, neugierige Dame in ihrem hohen Alter in die Rolle einer scharfsinnigen Detektivin schlüpft, nachdem zwei Todesfälle Babbington Hall erschüttert haben. Erst ist ein liebenswerter Mitsiebziger so unglücklich über den von Efeu überwucherten Sockel einer steinernen Statue gestolpert, dass er stürzte und sein Schädel brach. Die Heimleiterin quält sich daraufhin mit Selbstvorwürfen, weil sie es versäumt habe, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Schließlich stürzt sie selbst in einer Gewitternacht aus ihrem kleinen Dachfenster im dritten Stock des Gebäudes in den Tod.
Miss Renata Green, 40, hat die Heimleitung knapp vier Jahre zuvor übernommen und war eine sehr zurückhaltende, einsame Person. Die Leute sagten, sie sei »ein kalter Fisch«. Nach dem Unglück saß sie oft grübelnd im Garten, und Florrie versuchte, »das liebe kleine Ding« aufzumuntern. Erstaunlicherweise öffnete sich ihr die sonst so verschlossene Frau, erzählte ihr von ihren Träumen (»mit Walen schwimmen«) und Plänen wie einer baldigen Paris-Reise. Renatas leuchtende Augen ließen Florrie vermuten, es gebe womöglich einen Verehrer, aber sie wisse nicht so recht, wie sie sich geben solle.
Am Tag der Sommersonnenwende scheint Renata noch aus einem anderen Grunde stark belastet. Aber als in der schwülheißen Nacht ein Gewitter über das Haus zieht, findet ohnehin niemand im Heim in den Schlaf, auch Florrie nicht. Aufgewühlt von dem Gespräch mit Renata taucht sie in Gedanken tief ein in ihre eigene turbulente Vergangenheit – bis ein Schrei aus dem obersten Stock vom zweiten entsetzlichen Ereignis kündet.
Dass Renata Selbstmord begangen habe, kann Florrie sich ebenso wenig vorstellen wie dass es im Heim einen Mörder geben könne. So macht sie sich an die Ermittlungsarbeit, bei der ihr ein rüstiger, geschätzter Mitbewohner assistiert.
Damit ist der Handlungsstrang umrissen, der sich in der Gegenwart zuträgt: ein recht gemächlicher Krimiplot – und ungewöhnlich, denn er kommt ganz ohne Blut und ohne Nerven aufreibende Aktionen aus.
Der zweite Strang reicht zurück in Florries Vergangenheit. Im Laufe der Handlung streut die Autorin immer wieder winzige Bemerkungen ein, die uns zuerst rätselhaft erscheinen, sich dann aber verdichten und unsere Aufmerksamkeit auf zwei Geheimnisse fokussieren. Das eine ist der »Hackney-Vorfall«. Über siebzig Jahre schon hat Florrie nicht darüber geredet, aber es muss ein tragisches Ereignis gewesen sein, das sie von Grund auf veränderte und mit jeder Erinnerung daran wieder eine »Lawine« von Gefühlen auslöst. Die Andeutungen lassen auf ein ganzes Bündel von Gewalt und Unglück schließen, bis sich erst ganz am Schluss ein dunkles Bild zusammenfügt.
Das andere betrifft den Titel. Was mag es wohl mit der »Nachtschwalbe« auf sich haben? Auch diese Frage lässt uns nicht ruhen, bis sie am Ende ihre Antwort findet.
Nicht so sehr die Kriminalhandlung als der Reichtum an Themen und ihre abwechslungsreiche Gestaltung in einem überwiegend heiteren, warmherzigen Ton sind es, die das Buch zu einem erfüllenden Lesegenuss machen. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die klärenden, teils tiefgründigen Resümees einer klugen, sympathischen Frau mit großer Lebenserfahrung, die über ihr ungewöhnliches Leben an vielen Orten der Welt und an der Seite mehrerer Männer nachdenkt und ihren ernsten Reflexionen mit einer Prise Humor einen Flügelschlag an Leichtigkeit beimengt. So entstehen weise Betrachtungen: »Wir glauben so lange, dass das Alter uns niemals betreffen wird. Wir haben das Gefühl, dass speziell wir eine Ausnahme sein könnten, dass wir eine Art Ticket bekommen, das uns erlaubt, dem Tod auszuweichen, in einen Gully zu schlüpfen und dort fröhlich pfeifend weiterzumachen. [Wir alle] empfinden Trauer darüber, älter zu sein. Wir hegen Reue und haben Verluste erlitten und beklagen verpasste Chancen. […] Wir sitzen alle im selben Boot.«
»The Night in Question«, die englische Originalausgabe dieses Romans von Susan Fletcher, wird in Großbritannien erst im April 2024 erscheinen. Silke Jellinghaus und Katharina Naumann haben ihn wunderbar ins Deutsche übersetzt.