Rezension zu »Propaganda« von Steffen Kopetzky

Propaganda

von


Mitten in einer verheerenden Schlacht wird der junge deutsch-amerikanische Propagandaoffizier John Glueck 1944 Zeuge eines Aktes humanitärer Zivilcourage. Jahre später tritt er selbst in Aktion, um als Insider die Wahrheit über die amerikanische Vietnam-Politik offenzulegen. Seine Ansichten zu Deutschland und der weltpolitischen Rolle der USA provozieren, seine überquellenden Erinnerungen an Kriegsgräuel, Schriftsteller und Abenteuer fesseln und unterhalten.
Historischer Roman · Rowohlt · · 496 S. · ISBN 9783737100649
Sprache: de · Herkunft: de

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Schriftsteller mit Zivilcourage

Rezension vom 04.01.2020 · 5 x als hilfreich bewertet mit 2 Kommentaren

Um die Kluft zwischen Wirklichkeit, Idealen und dem, was ›die Politik‹ den Bürgern gerne weis­machen möchte, geht es in Steffen Kopetzkys Roman »Propa­ganda«. Er zeigt die Diskre­panzen auf an einem besonders schmerz­haften Sujet, dem Krieg. Das ist nun wahrlich kein neues Konzept, aber der Autor illustriert es an zwei be­merkens­werten Bei­spielen, einer Schlacht in der Nordeifel Ende 1944 und dem Vietnam­krieg. In diesem kühnen Hand­lungs­bogen bringt Kopetzky eine Unzahl von Personen, Ereig­nissen, Meinungen, Fakten und Fiktionen unter, dass die Lektüre gleicher­maßen auf­schluss­reich, bewegend, bedrü­ckend, provokant, spannend und sogar amüsant ist.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Schlacht im Hürtgen­wald. In den drei Monaten nach der Landung in der Normandie war es den Alliier­ten mit ihrer Material­über­legen­heit gelungen, die deutschen Invasoren aus Nord­frank­reich zurückzu­drängen. Ihr Ziel war jetzt, den Rhein zu erreichen. Über­raschen­derweise wählte die US-Army, die Ende September westlich von Aachen stand, für ihr weiteres Vorstoßen nicht die über­sicht­liche Jülicher Börde, sondern den direkten Weg durch die Nordeifel. Kein Ameri­kaner ahnte, was die Soldaten dort erwarten würde: ein unweg­sames, dicht bewal­detes Gebirge, in dem die schweren Fahrzeuge der Army stecken­blieben und an Luft­unter­stützung nicht zu denken war, und ein bestens vor­berei­teter Gegner. Denn die Wehrmacht hielt für die geplante »Ardennen­offen­sive« westlich der Rur starke Verbände bereit. Mit den topogra­fischen Gegeben­heiten war man vertraut und konnte sie nutzen, um dem an­rücken­den Feind mit strate­gisch geschickt ange­legten Feuer­stellun­gen, ver­steck­ten Scharf­schützen, beson­deren Minen und spe­zieller Munition erbitter­ten Wider­stand zu leisten.

In einem verlustreichen, demoralisierenden Stellungs­krieg mitten im Wald, Mann gegen Mann, aus Schützen­löchern und hohlen Baum­stämmen heraus geführt, war kein Sieg zu erringen. Dennoch ersetzten die Ameri­kaner ihre erschöpf­ten und entmu­tigten Einheiten durch völlig uner­fahrene frische Truppen und warfen sie am 2. November in eine Offen­sive gegen die kampf­erprob­ten Deutschen, die als »Aller­seelen­schlacht« in die Geschichte einging. Sie brachte der US-Army unter unver­ändert harten Bedin­gungen (»als hätten sich unsere Soldaten dort, allein gelassen von der Führung, in einer Art Märchen-Horror­wald voller Ungeheuer verlaufen.«) die grau­samsten und verlust­reichsten Kämpfe des Zweiten Welt­kriegs und eine desas­tröse Nieder­lage.

Als Vermittler dieser Ereignisse setzt Steffen Kopetzky einen amerika­nischen Soldaten mit deutschen Wurzeln, literari­schen Ambi­tionen und gefes­tigter Moral als Ich-Erzähler ein. John Glueck, 1921 in den USA geboren, ist geprägt von Tüchtig­keit und kriti­schem Freigeist seiner pennsyl­vania-deutsch-rheini­schen Groß­eltern. Getrieben von einer Sehnsucht für »das mythische Land, welches Deutsch­land hieß«, das Land der Dichter und Denker, »das ich, ohne es je gesehen zu haben, inniglich liebte«, studiert er Germa­nistik. Er träumt davon, als Schrift­steller zu reüs­sieren, wie auch die anderen jungen Kreativen in seinem Bekannten­kreis (William Saroyan, J. D. Salinger, William Faulkner, Charles Bukowski … Kopetzky präsen­tiert sie in etlichen Neben­strängen mit durchaus bissigem Esprit).

Doch mit dem Kriegseintritt der USA rekru­tiert die Army Johns Talent für ihren Psycho­krieg (»Sykewar«) und mutiert ihn zum Propagan­disten. Für das »Depart­ment for Psycho­logical Warfare« arbeitet er 1944 in London beim »Sternen­banner«, einer deutsch­spra­chigen Postille, die säcke­weise über Deutsch­land abge­worfen wird, um die vom Nazi-Regime fehlge­leitete Bevöl­kerung aufzu­klären und die Wehrmacht-Soldaten zu zermürben. Ein Repor­tage­auftrag führt ihn per Fall­schirm­absprung zu Ernest Hemingway, dem impo­santen Groß­fürsten der Kriegs­bericht­erstat­tung. Statt mit ihm die Eroberung von Paris zu begleiten (wozu Hemingway erst einmal aus­nüchtern müsste), beginnt für John wenige Wochen später die Leidens- und Läute­rungs­zeit der »Aller­seelen­schlacht«.

John Glueck verdankt sein Überleben in diesem Grauen einer histori­schen Figur. Fast fünfzig Jahre lang hat Dr. Günter Stüttgen, damals 25 und Arzt in Vossenack, für sich behalten, dass er mitten im erbar­mungs­losen Kampf­gesche­hen Hunderte verletzte Soldaten beider Seiten bergen und versorgen half und den Militär­füh­rungen für dieses huma­nitäre Anliegen sogar Stunden des Waffen­still­stands abhandeln konnte. In Kopetzkys Fiktion ist dieser Held der Mensch­lich­keit ein edler Wehr­machts­offizier – eine gewagte Verände­rung, die den Relati­vierern ebenso in die Hände spielt wie Gluecks Bewun­derung für die militär­histo­risch begegrün­deten Quali­täten der Wehrmacht und Sätze wie »Es war ein klares Ziel unserer Nach­kriegs­propa­ganda, Preußen und seine Militär­tradition, die die Wehrmacht fortge­führt hatte, mit dem Schlag­wort Kadaver­gehorsam abzu­qualifi­zieren.« So wird Gluecks »spannende, bewegende Reportage« vom »German Doctor« denn auch beim »Sternen­banner« abgelehnt, denn »es ist jetzt einfach nicht die Zeit für deutsche Helden«.

Nach der siegreichen »Befreiung Europas« ist John Glueck zufrieden mit dem, was er in West­deutsch­land miterlebt. Die BRD bekommt »die vermut­lich fort­schritt­lichste demo­krati­sche Verfas­sung der Welt«, und mit dem Marshall­plan ermög­licht ihr Amerika einen wirt­schaft­lichen und kultu­rellen Auf­schwung. Zurück in den USA promo­viert er zu militär­strategi­schen Themen und tritt dann in die militär­nahe Denk­fabrik RAND Corpo­ration ein. Doch je länger er sich dort im Auftrag des Pentagon mit den amerika­nischen Pazifi­zierungs­program­men in Korea und Vietnam befasst, deren Erfolge seine Unter­suchun­gen belegen sollen und deren wirt­schaft­liche Hinter­gründe er begreift, desto mehr zerfällt sein Glaube, dass die USA auf »Wahrheit, Freiheit und Vertrauen« gegründet seien.

Über den Krieg in Vietnam macht sich Glueck 1968 in Saigon selbst ein Bild, und aus internen Unter­lagen des Pentagon erfährt er Uner­hörtes. Schon seit 1945 hatten alle US-Regie­rungen geplant, in Vietnam den Kommu­nismus mit Waffen zu bekämpfen, und all die Jahre wurde die Öffent­lichkeit über Absicht, Mittel und Ziele des Krieges systema­tisch getäuscht. Rück­blickend auf die »Aller­seelen­schlacht« konsta­tiert er erstaun­liche Paral­lelen, weit über die offen­sicht­liche des für eine Techno­kraten­armee unbe­zwing­baren Geländes hinaus. Vielmehr opferte die Führung an beiden Schau­plätzen trotz der Aus­sichts­losig­keit des Unter­fangens Tausende ihrer eigenen Soldaten. Propa­ganda ver­tuschte Fehl­entschei­dungen, beschö­nigte die Nieder­lage und glorifi­zierte die Opfer. Als er erkennt, was für ein »Riesen­geschäft« das Ent­laubungs­mittel »Agent Orange« für den Her­steller Monsanto war, fühlt er sich »wie ein sich unschul­dig wähnender, buch­halteri­scher deutscher Offizier im Jahre, sagen wir, 1943, der gerade zum ersten Mal den Zu­sammen­hang zwischen mehr Zug­fahrten in die Lager, zugleich steigen­den Kosten für Zyklon B und Gas­liefe­rungen für die Krema­torien zu verstehen begann«. Wie lässt sich verhin­dern, dass solche Aussagen in rechten Kreisen für eine simplifi­zierende Beschö­nigung histori­scher Wahr­heiten verein­nahmt werden?

Vielleicht folgt John Glueck Dr. Stüttgens Beispiel mutigen Handelns, wenn er sich 1971 durch einen gezielten provo­kanten Akt ins Gefängnis befördert. In der Zelle schreibt er seine Erkennt­nisse und Erleb­nisse nieder und bereitet die Philip­pika vor, die er bei seinem Prozess vortragen wird: »Wie konnten [wir] zulassen, dass … wir, die freiheits­lieben­den, demo­krati­schen Amerikaner«, mehr Bomben als im gesamten zweiten Weltkrieg auf die Menschen von Vietnam geworfen, einen »Krieg gegen die Ökologie des Mekong­deltas« geführt haben und »dass unsere agro­chemische Industrie Hunderte Millionen Dollar an der Entlau­bung des Dschun­gels verdient« hat? »Wir müssen uns unserer Schuld stellen.«

Während Glueck im Gefängnis seinen Prozess erwartet, spielt Daniel Ellsberg, sein Kollege bei der RAND Corpo­ration, der New York Times die »Pentagon Papers« zu – ein erster »Whistle­blower«.

Steffen Kopetzkys »Propaganda« ist ein aus­uferndes Opus von über­wältigen­der Detail­fülle, das viel histori­sche und politi­sche Fakti­zität durch den fiktio­nalen Prota­gonisten und eine Vielzahl von Personen, die ohne nähere Kennzeich­nung teils real, teils erfunden sind geschickt verwebt. Auf eine differen­zierte Charakter­zeich­nung hat der Autor keinen Wert gelegt. Viele Figuren sind nur Schall und Rauch, und selbst die Haupt­personen sind nicht frei von Gut-Böse-Klischees. John Glueck ist von Anfang an ein Guter, und sogar ein ›edler Wilder‹ tritt als »Einzel­kämpfer mit Sonder­status« auf. Nach Studium in Oxford und Harvard pirscht ein Irokese namens Van Seneca auf leisen Mokassin-Sohlen durch den finstern »Tannen­forst« von Hürtgen­wald und skalpiert wahr­haftig die Feinde.


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Kommentare

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Zu »Propaganda« von Steffen Kopetzky wurden 2 Kommentare verfasst:

Daniel schrieb am 09.01.2020:

Auf das Buch "Propaganda" von Steffen Kopetzky bin ich durch eine Besprechung im Spiegel oder bei Spiegel Online aufmerksam geworden.

Mich interessierte in erster Linie die Schlacht im Hürtgenwald sowie deren historische Hintergründe. Von dem Buch "Propaganda" erwartete ich in erster Linie die historischen Ereignisse eingebettet in eine fiktionale, unterhaltsame und spannende Geschichte vermittelt zu bekommen.

Zu meiner Enttäuschung spielte der Hürtgenwald auf den ersten 100 Seiten des Buches mit Ausnahme des kurzen Intros keine Rolle.

Vielmehr wird in epischer Breite der literarische Werdegang des Ich-Erzählers behandelt. Die vielen Literaten, die Erwähnung finden, wirken teilweise wie Name-Droping. (Beispielsweise erhält der Erzähler in der Haft die Buchvorlage zur erfolgreichen Serie "The Man in the High Castle" von Philip K. Dick. Der Zusammenhang zur Handlung erschließt sich mir nicht.)

Aus diesem Grund habe ich das Buch bislang nicht zu Ende gelesen, schließe aber nicht aus, dass ich es im kommenden Sommerurlaub noch einmal in Angriff nehme. Dafür möchte ich nicht direkt den Autor verantwortlich machen. Vielmehr erzeugte die Spiegel-Besprechung bei mir eine falsche Erwartungshaltung, die das Buch nicht erfüllen konnte.

Obwohl die vorstehende Rezension der Schlacht im Hürtgenwald ebenfalls viel Raum einräumt, vermittelt sie sehr gut, dass das Buch weit mehr beinhaltet als ein historisch fundiertes Kriegs-Abenteuer.

Hansgeorg Jansen schrieb am 10.02.2020:

Obschon der Ich-Erzähler durch seine im Vietnamkrieg erlittene Hauterkrankung auch tragische Momente verkörpert, sind hier zum Zwecke der Verbindung unterschiedlichster historischer Personen und Fakten unglaubwürdige Zusammenhänge konstruiert worden.
Ein James Bond- Typ der durch persönlichen Charme und mutige Entscheidungen es schafft, glücklich immer am richtigen oder falschen Ort zu sein.
Der Blick auf die Leistungen der Wehrmacht ist (gewünscht?) irritierend. Dieser "amerikanischer Roman" dürfte nach unserem Verständnis nicht von einem Deutschen geschrieben werden. Ist diese Aussage nunmehr falsch. Was bedeutet das in der Folge für unser historisches (Selbst) -Bild?

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