Propaganda
von Steffen Kopetzky
Mitten in einer verheerenden Schlacht wird der junge deutsch-amerikanische Propagandaoffizier John Glueck 1944 Zeuge eines Aktes humanitärer Zivilcourage. Jahre später tritt er selbst in Aktion, um als Insider die Wahrheit über die amerikanische Vietnam-Politik offenzulegen. Seine Ansichten zu Deutschland und der weltpolitischen Rolle der USA provozieren, seine überquellenden Erinnerungen an Kriegsgräuel, Schriftsteller und Abenteuer fesseln und unterhalten.
Schriftsteller mit Zivilcourage
Um die Kluft zwischen Wirklichkeit, Idealen und dem, was ›die Politik‹ den Bürgern gerne weismachen möchte, geht es in Steffen Kopetzkys Roman »Propaganda«. Er zeigt die Diskrepanzen auf an einem besonders schmerzhaften Sujet, dem Krieg. Das ist nun wahrlich kein neues Konzept, aber der Autor illustriert es an zwei bemerkenswerten Beispielen, einer Schlacht in der Nordeifel Ende 1944 und dem Vietnamkrieg. In diesem kühnen Handlungsbogen bringt Kopetzky eine Unzahl von Personen, Ereignissen, Meinungen, Fakten und Fiktionen unter, dass die Lektüre gleichermaßen aufschlussreich, bewegend, bedrückend, provokant, spannend und sogar amüsant ist.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Schlacht im Hürtgenwald. In den drei Monaten nach der Landung in der Normandie war es den Alliierten mit ihrer Materialüberlegenheit gelungen, die deutschen Invasoren aus Nordfrankreich zurückzudrängen. Ihr Ziel war jetzt, den Rhein zu erreichen. Überraschenderweise wählte die US-Army, die Ende September westlich von Aachen stand, für ihr weiteres Vorstoßen nicht die übersichtliche Jülicher Börde, sondern den direkten Weg durch die Nordeifel. Kein Amerikaner ahnte, was die Soldaten dort erwarten würde: ein unwegsames, dicht bewaldetes Gebirge, in dem die schweren Fahrzeuge der Army steckenblieben und an Luftunterstützung nicht zu denken war, und ein bestens vorbereiteter Gegner. Denn die Wehrmacht hielt für die geplante »Ardennenoffensive« westlich der Rur starke Verbände bereit. Mit den topografischen Gegebenheiten war man vertraut und konnte sie nutzen, um dem anrückenden Feind mit strategisch geschickt angelegten Feuerstellungen, versteckten Scharfschützen, besonderen Minen und spezieller Munition erbitterten Widerstand zu leisten.
In einem verlustreichen, demoralisierenden Stellungskrieg mitten im Wald, Mann gegen Mann, aus Schützenlöchern und hohlen Baumstämmen heraus geführt, war kein Sieg zu erringen. Dennoch ersetzten die Amerikaner ihre erschöpften und entmutigten Einheiten durch völlig unerfahrene frische Truppen und warfen sie am 2. November in eine Offensive gegen die kampferprobten Deutschen, die als »Allerseelenschlacht« in die Geschichte einging. Sie brachte der US-Army unter unverändert harten Bedingungen (»als hätten sich unsere Soldaten dort, allein gelassen von der Führung, in einer Art Märchen-Horrorwald voller Ungeheuer verlaufen.«) die grausamsten und verlustreichsten Kämpfe des Zweiten Weltkriegs und eine desaströse Niederlage.
Als Vermittler dieser Ereignisse setzt Steffen Kopetzky einen amerikanischen Soldaten mit deutschen Wurzeln, literarischen Ambitionen und gefestigter Moral als Ich-Erzähler ein. John Glueck, 1921 in den USA geboren, ist geprägt von Tüchtigkeit und kritischem Freigeist seiner pennsylvania-deutsch-rheinischen Großeltern. Getrieben von einer Sehnsucht für »das mythische Land, welches Deutschland hieß«, das Land der Dichter und Denker, »das ich, ohne es je gesehen zu haben, inniglich liebte«, studiert er Germanistik. Er träumt davon, als Schriftsteller zu reüssieren, wie auch die anderen jungen Kreativen in seinem Bekanntenkreis (William Saroyan, J. D. Salinger, William Faulkner, Charles Bukowski … Kopetzky präsentiert sie in etlichen Nebensträngen mit durchaus bissigem Esprit).
Doch mit dem Kriegseintritt der USA rekrutiert die Army Johns Talent für ihren Psychokrieg (»Sykewar«) und mutiert ihn zum Propagandisten. Für das »Department for Psychological Warfare« arbeitet er 1944 in London beim »Sternenbanner«, einer deutschsprachigen Postille, die säckeweise über Deutschland abgeworfen wird, um die vom Nazi-Regime fehlgeleitete Bevölkerung aufzuklären und die Wehrmacht-Soldaten zu zermürben. Ein Reportageauftrag führt ihn per Fallschirmabsprung zu Ernest Hemingway, dem imposanten Großfürsten der Kriegsberichterstattung. Statt mit ihm die Eroberung von Paris zu begleiten (wozu Hemingway erst einmal ausnüchtern müsste), beginnt für John wenige Wochen später die Leidens- und Läuterungszeit der »Allerseelenschlacht«.
John Glueck verdankt sein Überleben in diesem Grauen einer historischen Figur. Fast fünfzig Jahre lang hat Dr. Günter Stüttgen, damals 25 und Arzt in Vossenack, für sich behalten, dass er mitten im erbarmungslosen Kampfgeschehen Hunderte verletzte Soldaten beider Seiten bergen und versorgen half und den Militärführungen für dieses humanitäre Anliegen sogar Stunden des Waffenstillstands abhandeln konnte. In Kopetzkys Fiktion ist dieser Held der Menschlichkeit ein edler Wehrmachtsoffizier – eine gewagte Veränderung, die den Relativierern ebenso in die Hände spielt wie Gluecks Bewunderung für die militärhistorisch begegründeten Qualitäten der Wehrmacht und Sätze wie »Es war ein klares Ziel unserer Nachkriegspropaganda, Preußen und seine Militärtradition, die die Wehrmacht fortgeführt hatte, mit dem Schlagwort Kadavergehorsam abzuqualifizieren.« So wird Gluecks »spannende, bewegende Reportage« vom »German Doctor« denn auch beim »Sternenbanner« abgelehnt, denn »es ist jetzt einfach nicht die Zeit für deutsche Helden«.
Nach der siegreichen »Befreiung Europas« ist John Glueck zufrieden mit dem, was er in Westdeutschland miterlebt. Die BRD bekommt »die vermutlich fortschrittlichste demokratische Verfassung der Welt«, und mit dem Marshallplan ermöglicht ihr Amerika einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Zurück in den USA promoviert er zu militärstrategischen Themen und tritt dann in die militärnahe Denkfabrik RAND Corporation ein. Doch je länger er sich dort im Auftrag des Pentagon mit den amerikanischen Pazifizierungsprogrammen in Korea und Vietnam befasst, deren Erfolge seine Untersuchungen belegen sollen und deren wirtschaftliche Hintergründe er begreift, desto mehr zerfällt sein Glaube, dass die USA auf »Wahrheit, Freiheit und Vertrauen« gegründet seien.
Über den Krieg in Vietnam macht sich Glueck 1968 in Saigon selbst ein Bild, und aus internen Unterlagen des Pentagon erfährt er Unerhörtes. Schon seit 1945 hatten alle US-Regierungen geplant, in Vietnam den Kommunismus mit Waffen zu bekämpfen, und all die Jahre wurde die Öffentlichkeit über Absicht, Mittel und Ziele des Krieges systematisch getäuscht. Rückblickend auf die »Allerseelenschlacht« konstatiert er erstaunliche Parallelen, weit über die offensichtliche des für eine Technokratenarmee unbezwingbaren Geländes hinaus. Vielmehr opferte die Führung an beiden Schauplätzen trotz der Aussichtslosigkeit des Unterfangens Tausende ihrer eigenen Soldaten. Propaganda vertuschte Fehlentscheidungen, beschönigte die Niederlage und glorifizierte die Opfer. Als er erkennt, was für ein »Riesengeschäft« das Entlaubungsmittel »Agent Orange« für den Hersteller Monsanto war, fühlt er sich »wie ein sich unschuldig wähnender, buchhalterischer deutscher Offizier im Jahre, sagen wir, 1943, der gerade zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen mehr Zugfahrten in die Lager, zugleich steigenden Kosten für Zyklon B und Gaslieferungen für die Krematorien zu verstehen begann«. Wie lässt sich verhindern, dass solche Aussagen in rechten Kreisen für eine simplifizierende Beschönigung historischer Wahrheiten vereinnahmt werden?
Vielleicht folgt John Glueck Dr. Stüttgens Beispiel mutigen Handelns, wenn er sich 1971 durch einen gezielten provokanten Akt ins Gefängnis befördert. In der Zelle schreibt er seine Erkenntnisse und Erlebnisse nieder und bereitet die Philippika vor, die er bei seinem Prozess vortragen wird: »Wie konnten [wir] zulassen, dass … wir, die freiheitsliebenden, demokratischen Amerikaner«, mehr Bomben als im gesamten zweiten Weltkrieg auf die Menschen von Vietnam geworfen, einen »Krieg gegen die Ökologie des Mekongdeltas« geführt haben und »dass unsere agrochemische Industrie Hunderte Millionen Dollar an der Entlaubung des Dschungels verdient« hat? »Wir müssen uns unserer Schuld stellen.«
Während Glueck im Gefängnis seinen Prozess erwartet, spielt Daniel Ellsberg, sein Kollege bei der RAND Corporation, der New York Times die »Pentagon Papers« zu – ein erster »Whistleblower«.
Steffen Kopetzkys »Propaganda« ist ein ausuferndes Opus von überwältigender Detailfülle, das viel historische und politische Faktizität durch den fiktionalen Protagonisten und eine Vielzahl von Personen, die ohne nähere Kennzeichnung teils real, teils erfunden sind geschickt verwebt. Auf eine differenzierte Charakterzeichnung hat der Autor keinen Wert gelegt. Viele Figuren sind nur Schall und Rauch, und selbst die Hauptpersonen sind nicht frei von Gut-Böse-Klischees. John Glueck ist von Anfang an ein Guter, und sogar ein ›edler Wilder‹ tritt als »Einzelkämpfer mit Sonderstatus« auf. Nach Studium in Oxford und Harvard pirscht ein Irokese namens Van Seneca auf leisen Mokassin-Sohlen durch den finstern »Tannenforst« von Hürtgenwald und skalpiert wahrhaftig die Feinde.