Wald-Mädchen und Stadtfuzzi
Papa unter Alkohol am Steuer? Papa Opfer eines Herzinfarkts? Das glaubt doch, wer will ...
Mara jedenfalls kann bis heute nicht akzeptieren, dass ihr Vater Piet sie und ihre Mutter Evi auf diese Weise für immer verlassen haben soll, selbst wenn die Untersuchungsergebnisse des Unfallarztes das behaupten. Niemals hätte dieser verantwortungsbewusste Mann auch nur einen Tropfen getrunken, ehe er sich hinter dem Steuer seines Schulbusses niederließ, zumal unter den vielen jungen Fahrgästen auch seine eigene Tochter und viele ihrer Klassenkameraden saßen. Und dass ein durchtrainierter Sportler wie ihr Paps – keineswegs bloß Feierabend-Jogger, sondern bis vor wenigen Jahren noch der große deutsche Hoffnungsträger für die nächsten olympischen Spiele! – an einer Durchblutungsstörung stirbt, ist doch ebenso unwahrscheinlich.
Das Glück hatte die Familie schon Jahre zuvor verlassen. Mama gelang es einfach nicht, als Künstlerin Anerkennung zu finden und mit ihren Skulpturen Geld zu verdienen. Als Papa sich im Skiurlaub (da war Mara acht) ein Bein brach, war nicht nur seine Sportlerkarriere beendet, sondern auch das bisherige Leben in der Stadt nicht mehr finanzierbar. Die Familie zog aufs Land, nach Hundsgrub, einem 23-Seelen-Dorf, wo – nomen est omen – der Hund begraben liegt. Papa fand dank seines Führerscheins einen Job als Busfahrer, Mama half nebenbei in der Dorfkneipe aus, und Mara schlug sich in der Schule durch. Bald würde sie ihr Abi in der Tasche haben und all das endlich hinter sich lassen und abhauen können, wie einst ihre Mama auch, als sie noch ein junges Mädchen war.
Das einzige Plus von Hundsgrub war, dass die Familie dort auf dem Bauernhof der Großeltern mietfrei wohnen konnte. Freilich hat selbst das seinen Preis: Hier haben sie jede Menge Aushilfsarbeiten an der Backe. Da sind Quitten und Birnen abzuklauben, Kürbisse und Zuckerrüben zu ernten, Folienhäuser winterfest zu machen, der Räucherkamin mit Buchenholz und Kräutern zu bestücken ... Opas Job-Litanei nimmt kein Ende.
Dann kam vor einem Jahr der schreckliche Schulbusunfall. Er stempelte Mara, die in der Schule ohnehin nie richtig populär gewesen war, als »Tochter vom Unglücksfahrer« ab. Dass sie die offizielle Version der Schuldfrage nicht einfach hinnehmen will, macht ihr Leben nicht einfacher. Wie soll sie je die Wahrheit herausfinden, wenn sie mit niemandem darüber reden kann, nicht einmal mit ihrer Mutter? Seitdem Mama einen neuen Lover hat, ist ihr Verhältnis zueinander ausgesprochen angespannt.
Auch mit Sanna, ihrer besten (einzigen ...) Freundin in der Klasse, kann sie nicht über ihre Sorgen sprechen. In Sannas Welt existiert nur Ben, der »Obermufti« dieser bäuerlichen Region Frankens. Er stammt aus »altem Landadel«, und damit das jeder merkt und der Junge nicht mehr wie das gemeine Fußvolk in den Schulbus steigen muss, haben seine Eltern ihrem »Erbprinz« flugs ein Cabrio vor die Tür gestellt. Klar, dass Ben sich die Mädels aussuchen kann und niemand ihm zu widersprechen wagt. Obwohl er großkotzig mit Sanna umspringt, schmachtet sie ihn sehnsüchtig an. Mara kann das Getue kaum ertragen und würde ihrer Freundin gern mal so richtig den Kopf zurechtrücken. Doch dazu ist sie zu zurückhaltend; außerdem fürchtet sie, Sanna zu verlieren, wenn sie von ihr missverstanden werden sollte.
Nach den Herbstferien betritt ein Neuer die Klasse und mischt gleich selbstbewusst den Lateinunterricht auf. Mara war dem »Stadtfuzzi« schon zuvor begegnet. Sie war auf ihrer Lieblingswaldstrecke unterwegs, um die Bilder ihrer nächtlichen Albträume abzustreifen, und hatte an einem Holzkruzifix innegehalten, als sie hinter sich plötzlich Geräusche vernahm und den »Kapuzentyp« erspähte. Es war ausgerechnet die fürchterliche Stelle, wo ihre Lehrerin für Dramatisch-Gestalten abgestürzt war. Seither sitzt Frau Karst querschnittsgelähmt im Rollstuhl, apathisch, weltvergessen, wie im Wachkoma.
Jetzt in der Schule kann Mara sich den Jungen in Ruhe anschauen. Jonah heißt er und wirkt mit seinem »gelangweilten Blick« wie ein »Schnösel«. »Er trug Jeans, Sneakers und Lederjacke über einem schwarzen T-Shirt, das aussah, als wäre es in ihn verliebt.« Mara kann ihren Blick nicht von ihm abwenden, denn »seine Augen leuchteten: Er hatte Huskyaugen, so hellgrau, als könnte er mit ihnen Metall schneiden« ...
So nimmt eine zarte, einfühlsam erzählte Liebesromanze ihren Lauf, die ohne platten Sex auskommt, dafür aber mit einem kriminalistischen Plot verknüpft ist.
Jede Leserin wird sich schnell ausrechnen, dass sich nicht nur Mara in Jonah verliebt, sondern auch Sanna gleich ein Auge auf ihn wirft, wenngleich mit niederträchtigen Absichten. Wenn es ihr gelänge, Jonah für sich zu erobern, könnte sie ihren Ben entweder so richtig eifersüchtig machen oder ihn am Ende auf den Mond schießen. Ständig hängt sie über ihrem Handy und verschickt SMS, um Mara darüber auf dem Laufenden zu halten, wie die Aktien mit ihrem neuen Schwarm Jonah stehen.
Neben Schmetterlingen im Bauch hat Mara noch Wespen im Kopf, die ihre Gedanken nicht ruhen lassen, seit sie in Papas Zimmer sein Notizbuch gefunden hat. So sorgfältig wie er es in einem Holzkasten hinter dem Abflussrohr versteckt hatte, muss es wichtige Informationen enthalten, nicht für jedermann bestimmt. Mara studiert endlose Zahlenkolonnen, in denen der Spitzensportler alle möglichen Details zu seinem medizinisch begleiteten Trainingsplan notiert hatte, pingelig geführte Tabellen mit Datum, Gewicht, Puls, Kreislauf-, Blutzucker- und Sauerstoffwerten, dazu Abkürzungen für Nahrungszusätze, das Ganze mit dicken Ausrufe- und Fragezeichen kommentiert. Auf der letzten Seite folgt ein Code aus Zahlen, Groß- und Kleinbuchstaben. Einen Reim kann sich Mara auf all das nicht machen, aber sie wird ihrem Bauchgefühl, dass irgendetwas daran faul ist, folgen, und hier wird sie ansetzen.
»Papakind« Mara ist die Ich-Erzählerin dieses guten Jugendbuchs, aber manchmal wechselt die Erzählperspektive – dann übernimmt Jonah. Nur wir Leser, nicht aber Mara, erfahren dann, wie er zu ihr und Sanna steht, was er von Ben und seiner Clique hält und wie es bei den Saufgelagen bei Bens Poolpartys zugeht. Damit haben wir den Charakteren des Romans allerhand voraus. Dafür weiht Jonah das »Wald-Mädchen«, das sich nach außen tough gibt, innen aber sensibel ist, in die Probleme seiner Familie ein. Seine Eltern haben sich ziemlich hoffnungslos zerstritten und sind, um ihrer Beziehung doch noch eine zweite Chance zu geben, hierher in die Ödnis gezogen. Auch Mara vertraut Jonah und eröffnet ihm, was sie im Innersten so schwer beschäftigt. Sie breitet ihre spinnerten Ideen über den Unfalltod des Vaters aus und bezieht ihn in die Suche nach einem möglichen Mörder ein. Als erstes braucht sie Hilfe bei der Entschlüsselung der rätselhaften Zahlen und Buchstaben, und Jonah bietet ihr seine Unterstützung an. Je weiter die beiden Detektive sich voran wagen, desto gefährlicher wird ihr Weg und desto näher kommen sie einander ...