Angeln in dunklen Gewässern
Dr. David Hunters tägliches Brot ist unappetitlich. »Ich war mit dem Tod in all seinen grausigen Facetten bestens vertraut, sprach die Sprache von Knochen, Fäulnis und Verwesung fließend«, sagt er selbst. Als forensischer Anthropologe ist er eine Koryphäe und teilt sein Wissen nicht nur mit der Polizei, wenn die und die Rechtsmedizin nicht mehr weiter weiß, sondern auch gern mit uns, den Lesern der bislang fünf Bände umfassenden Reihe über seine Fälle (»Die Chemie des Todes« , »Kalte Asche« , »Leichenblässe« , »Verwesung« [› Rezension], »Totenfang«). Dass viele sein Treiben abscheulich finden, ist ihm klar. Aber Emotionen müssen draußen bleiben, wenn er sich mit streng wissenschaftlicher Präzision an die Untersuchung des Wenigen macht, das Zeit, Natur und menschliches Tun von einem Körper übrig gelassen haben.
Zur Einstimmung lernen wir anlässlich eines fünfhundert Jahre alten Mädchenschädels aus den Mooren Northumberlands (aktuell in einer Schachtel der Universitätssammlung untergebracht), wie sich ein Leichnam im Wasser grundsätzlich verhält. Ist die Luft erst einmal aus den Lungen entwichen, sinkt er auf den Grund hinab und bleibt dort, wenn das Wasser kalt ist. Herrschen da unten aber Temperaturen, die Bakterien als angenehm empfinden, machen sich die nützlichen kleinen Lebewesen an die Arbeit und zersetzen die Leiche. Bei diesen Verwesungsprozessen füllen Faulgase den Innenraum, so dass der Körper wieder ans Tageslicht emporsteigt und eine Zeitlang an der Wasseroberfläche treibt – bäuchlings, denn Finger, Hände und Füße, Arme und Beine zieht es dank der Schwerkraft in die Tiefe. Sie lösen sich Stück für Stück ab, zuletzt der Kopf, dann sinkt der gasfreie Torso wieder hinab. Parallel dazu ist die Fettschicht unter der Haut zerfallen und zu einem dicken, fettigen Mantel mutiert, der das Körperinnere schützt. Diese Substanz nennt sich Leichenwachs, Adipocire oder ganz banal »Seife«.
Aktuell ist Dr. David Hunter allerdings angeschlagen, seelisch und beruflich. Seit er seine Frau und seine Tochter bei einem Autounfall verlor, ist er in eine kleine Mietwohnung in den Außenbezirken Londons gezogen, wo er allein lebt und seine sozialen Kontakte vernachlässigt. Und nachdem er im letzten Herbst an einer skandalumwitterten Ermittlung beteiligt war, bei der zwei Polizisten zu Tode kamen und in deren Folge ein Beamter den Dienst quittieren musste, wird er, obwohl ihn keine Schuld trifft, bald seine Anstellung an der Uni verlieren. Auch bei Mordfällen wird man ihn wohl vorerst nicht mehr zu Rate ziehen.
Umso überraschender trifft ihn die Einladung von DI Bob Lundy, bei der Bergung einer Wasserleiche in den unwirtlichen Küstenmarschen von Essex zu helfen. Wo früher die Austernfischerei das Leben der wenigen Bewohner bestimmte, herrscht heute nur noch Ödnis. Leicht verliert man hier die Orientierung, schnell überschwemmt die hereindrängende Flut die wenigen befestigten Wege. Weiter draußen, in den stürmischen Gewässern der Barrows, den Sandbänken des Mündungsgebietes, wo die Leiche gesichtet wurde, beginnt jetzt ein »Wettlauf mit dem Wasser«, denn der den Gezeiten ausgesetzte Körper könnte (wie wir wissen) schon vor der Bergung in Einzelteile auseinanderfallen und wäre dann ein für alle Mal verloren.
Unter Hunters Mitwirkung gelingt die Bergung des Leichnams. Tatsächlich sind Hände und Füße bereits abgefallen, ist der männliche Tote bis zur Unkenntlichkeit verändert. Doch anhand seines Mantels und seiner Uhr kann man ihn leicht identifizieren: Es ist Leo Villiers, 31, einziges Kind des wohlhabenden Sir Stephen Villiers, wegen seines losen Lebenswandels »schwarzes Schaf« der Familie und schon seit einem Monat vermisst.
Damit ist der Fall abgeschlossen, und man könnte eigentlich ins Wochenende starten. In Wirklichkeit beginnen jetzt erst die Komplikationen. Hunter hat sich auf See ordentlich erkältet, sein Auto säuft in einer überschwemmten Mulde ab, und auf der Suche nach Hilfe und einer Bleibe trifft er auf eine merkwürdige Familie: Andrew Trask, seine beiden Kinder und seine attraktive Schwägerin Rachel begegnen ihm allesamt abweisend. Trasks Frau Emma Darby (Rachels Schwester und eine glamouröse Fotografin) hatte mindestens geschäftliche, wenn nicht private Beziehungen mit Leo Villiers, bis sie vor Monaten nach einer lautstarken Auseinandersetzung mit ihm spurlos verschwand. Weder Andrew Trask noch Leo Villiers konnte irgend eine Schuld an Emmas Verschwinden nachgewiesen werden – womit auch dieser Fall für die Polizei ad acta gelegt werden konnte.
Je länger Hunter hier verweilt, desto mysteriöser erscheinen ihm die Dinge, die er beobachtet, erlebt und zugetragen bekommt. Fast überfährt er einen alten verwirrten Mann mit einer Möwe in den Armen. Seine Tochter, so hört er, verschwand vor über zwanzig Jahren. Schließlich angelt Hunter einen Turnschuh nebst Fußgelenkknochen und -knorpeln aus dem Treibgut im Flussbett.
Mit Cliffhangern wie diesen hält Simon Beckett seine Leser bei Laune, dosiert seine Knüllerchen aber sparsam. Nach einhundertfünfzig Seiten sind wir im Kriminalfall nicht wesentlich vorangekommen und haben bis zum nächsten aufregenden Ereignis gut vierzig weitere Seiten vor uns. Dann vermisst Trask sein Töchterchen Fay ...
»The Restless Dead« (übersetzt von Sabine Längsfeld und Karen Witthuhn) ist trotz der schaurigen Profession seines Protagonisten kein Thriller, der unsere Blutgefäße gefrieren lässt, sondern eher ein unterhaltsamer Roman, dessen fortlaufender Handlungsstrang immer mal wieder mit kriminellen Elementen angereichert ist (und zum Ende hin ziemlich konfus wird). Trotzdem gelingt es dem Autor, eine Spannung aufzubauen, die den Leser ans Buch fesselt. Minutiös schildert Beckett die Landschaft, die Atmosphäre der Schauplätze, den Tagesablauf seines Helden, der sich mit Appetitlosigkeit, Fieber und anderen Malaisen quälen muss. Manches davon ist banaler Füllstoff zwischen den Erkenntnissen, die schließlich zur Lösung aller Rätsel beitragen. Am Ende ist ein ganzer Berg schmutziger Wäsche, der sich in einer Familie über viele Jahre angehäuft hat, gewaschen (wenn auch nicht ganz rückstandsfrei), und wir haben eine aufschlussreiche forensische Fortbildung genossen.