Der Freund
von Sigrid Nunez
Ein gealterter Literaturdozent und obsessiver Verführer nimmt sich das Leben und hinterlässt seiner langjährigen Seelenfreundin eine Dogge. Frau und Hund trauern gemeinsam, und die Autorin streut dazu eine literarische Blumenwiese.
In Trauer und Liebe verbunden
Namen fallen unendlich viele in diesem Roman, nur zwei nicht: der der Ich-Erzählerin und der ihres verstorbenen Freundes. Die anonym bleibende Schriftstellerin verfasst eine Art Trauerbuch an und für einen Literaturdozenten, der sich das Leben genommen hat. Was sie schreibt, ist teils Gespräch (notgedrungen monologisch), teils Tagebuch, teils literarische Exkursionen, teils Essay-, teils Interpretationsschnipsel und vor allem viele, viele Zitate.
Die Titelbezeichnung ist hübsch doppeldeutig – wie auch die Handlung dieses anspruchsvoll formulierten Kunstwerks zwiegenäht ist. Der eine rote Faden ist die Auseinandersetzung mit dem betrauerten Literaten, seinem Handeln und Sterben. Der zweite ist die Annäherung der Erzählerin an den hinterbliebenen »Freund« des Verstorbenen, einen großen Hund, den er ihr hinterlassen hat. (Dass dessen Bildnis gewichtig auf dem bunten Cover prangt, widerspricht den Relationen im Text und hebt die zarte Schwebe zwischen Mensch- und Tierwelt leider wieder auf.)
Zuerst also zum Menschen, dem namenlos bleibenden einst- und einmaligen Liebhaber der Erzählerin. Als Studentin in New York besuchte sie seine Schreibkurse an der Universität und verfiel wie viele ihrer Kommilitoninnen Charme, Esprit und Attraktivität des damals jüngsten Dozenten des Instituts. Der war kein Kostverächter. »In nahezu krankhaftem Maß unfähig […], allein zu sein«, hat er nach eigenem Bekunden vierzig Jahre lang »keine Nacht allein geschlafen«. Zwischen seinen drei Ehefrauen hatte er stets Freundinnen, zwischen den Freundinnen »One-Night-Stands« und »Drive-bys«, und all die ihm zugetanen Studentinnen waren die Würze seines Lebens, »der Seminarraum […] der erotischste Ort der Welt«.
Das Altern erlebt der Mann, inzwischen Professor, als »Kastration in Zeitlupe«. Die jungen Frauen begehren ihn nicht (mehr). Was sie in seine begierigen Arme treibt, ist Narzissmus, der »Nervenkitzel, einen älteren Mann in einer Machtposition auf die Knie zu zwingen«. Er aber braucht sie, denn seine ganze »Schaffenskraft«, seine »Produktivität« zieht er aus seiner hemmungslosen Promiskuität. Sich zu ändern, »sexuelle Abstinenz« zu leben, hat er »nie ernsthaft in Betracht gezogen«.
Obwohl »Romeo« nur ein einmaliges sexuelles Erlebnis mit der zartfühlenden, zurückhaltenden Ich-Erzählerin verbindet, bleiben die beiden zeitlebens in schriftlichem Kontakt und teilen eine Art sublimierte erotische Verbindung auf intellektueller Ebene. Wie nah sie ihm emotional ist, gesteht sie ihm nie. Aber wann immer er eine neue Liebesbeziehung eingeht oder eine verbrauchte kappt, löst das bei ihr einen »Stich« oder einen »Freudenausbruch« aus.
So einen wie ihn erwischt #MeToo gänzlich unvorbereitet, ahnungslos. Nachdem in all seinen Unterrichtsjahren »kein einziger Pieps« dazu verlautet war, dass er jede seiner Studentinnen mit »meine Liebe« ansprach, erreicht ihn nun ein Brief, den alle Studentinnen unterzeichnet haben – ein absurder Anlass, wie er findet, eine kleinliche Sache, ein unverhältnismäßiger Aufstand, ein überzogener Aufwand. Doch das demoralisierende Schreiben zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Er gibt nicht nur das Unterrichten auf, sondern nimmt sich gleich das Leben. Ihr Buch gibt der Erzählerin Raum für den Versuch, diesen letzten Schritt – den sie respektiert, aber nur schwer nachvollziehen kann – und das Wesen ihres (menschlichen) Freundes im Rückblick zu verstehen.
Die zweite Hauptrolle (oder ist es die erste – ist er der wahre »Freund«?) in der Gedankenwelt der Erzählerin spielt »Apollo«. So heißt die schwarz-weiß gefleckte Dänische Dogge, ein Achtzig-Kilo-Brocken, den man nicht leichtherzig zu sich nimmt, wenn man keine Hundefreundin ist und in einer winzigen Mietwohnung in Manhattan wohnt, in der Hundehaltung verboten ist. Aber das feinfühlige Frauchen, mittlerweile längst selbst Schriftstellerin und Dozentin für Creative Writing, sieht, dass das Erbstück offenkundig um sein Herrchen trauert und in ähnlich intensiver Weise mit ihm verbunden sein muss wie sie selbst.
So ist der zweite Handlungsstrang die Geschichte einer Überwindung und Annäherung und, insofern wie der erste, ein Versuch des Verstehenlernens. Indem die Erzählerin ihre anfängliche Hilflosigkeit und Abneigung gegen das arthritische, sabbernde, stinkende, aber sanftmütige, melancholische Tier bezwingt, meint sie in ihm fast menschliche Züge, Verhaltensweisen und Empfindungen zu erkennen – oder schreibt sie ihm zu, etwa wenn sie am Arbeitstisch sitzt, der Hund neben ihr steht und sich ihre Blicke auf Augenhöhe ineinander versenken. Zwischen den zwei einsamen Wesen, die nur eingeschränkt miteinander kommunizieren, sich aber dennoch verstehen können, entwickelt sich eine tiefe Beziehung gegenseitiger Anteilnahme, des Gebens und Nehmens.
Hiervon erzählt die Autorin in ihrem unsentimental emotionalen, kreativ humorvollen und wunderbar zu lesenden Mensch-Tier-Roman. Die äußere Handlung ist schlicht, arm an Spannung und Überraschungen. Dafür glänzt der Text durch unendlich viele literarische Einschübe, Zitate, Anspielungen inhaltlicher, stilistischer, philosophischer Natur. Unzählbar die Autoren seit Shakespeare, die namentlich genannt oder ungenannt zitiert werden, zu denen Sigrid Nunez allerlei Interessantes oder auch Beiläufiges erläutert, seien es ihre Auffassungen zur Liebe, zur Beziehung zwischen Mensch und Tier, zur Einsamkeit, zum Erfolg, zu Aufgabe und Wirkung des Schriftstellers oder zum Suizid. Dazu eine weitere Unendlichkeit kursiv kenntlich gemachter Zitate ohne Quellenangabe.
Und Nunez’ Zettelkasten gibt noch viel mehr her: Literaturkritische Randbemerkungen, Anekdoten über treue Hunde, Witze, Notizen, Seitenhiebe auf »Möchte-gern-Schriftsteller«, die Erwartungen von Buch-Club-Mitgliedern und den modernen Literaturbetrieb (»Jetzt schreibt jeder, so wie jeder kackt«), dies und das und Weiteres macht die Zutaten einer Salatsauce, die den Handlungsverlauf durchsprenkelt und würzt.
Für »The Friend« hat Sigrid Nunez (1951 in New York City geboren) den National Book Award 2018 erhalten. Auch für die deutschsprachige Ausgabe, von Anette Grube übersetzt, tönt nahezu einhellig höchstes Lob. Dem Unisono will ich nicht ohne Einschränkungen beistimmen. Ja, der Roman behandelt seine Themen (laut Verlag »Liebe, Freundschaft und die Kraft des Erzählens – und die tröstliche Verbindung zwischen Mensch und Hund«) anrührend, anregend, humorvoll und literarisch reizvoll. Selbst wer nichts für Hunde übrig hat, kommt zwanglos ins Nachdenken. Für Literaturkenner bietet Nunez’ originelle Ausstreuung ihrer überwältigenden Materialsammlung jede Menge befriedigende Aha-Effekte. Doch die ausschweifende, oft wie assoziativ dahin plätschernde Überfülle aus der Datenbank wird anstrengen und ermüden, wen die gleichzeitige Handlungsarmut nicht bei der Stange hält.