Handbuch des Folterns oder launiges Spiel über Selbstjustiz?
Das Autoren-Duo Sebastian Fitzek und Michael Tsokos, beide Rechtsmediziner der Charité in Berlin, hat mit seinem Gemeinschaftswerk "Abgeschnitten" einen stellenweise grauenerregenden, blutrünstigen Psychothriller geschaffen, der nicht jedermanns Sache sein wird. Die zu Grunde liegende ernste Thematik ist das Sexualstrafrecht in unserem Rechtsstaat, das viele Bürger nicht mit ihrem eigenen Gerechtigkeitsempfinden in Einklang bringen können.
Es scheint, als genössen die traumatisierten Opfer weniger Fürsorge als ihre Peiniger. Das vorgesehene und richterlich zugemessene Strafmaß ist vielen ein weiterer Anlass zum Kopfschütteln, denn Sexualstraftäter kommen offenbar mit wesentlich geringeren Haftzeiten davon als andere Kriminelle: So verbüßt ein Steuerhinterzieher sieben Jahre Gefängnis, während ein Familienvater, der seine vierjährige Tochter missbrauchte, auf Bewährung weiterhin im selben Haus wohnen darf (Diese beiden Beispiele von 2010 und 2011 werden im Anhang des Thrillers zitiert.). Die in den Medien und in der Öffentlichkeit diskutierte Frage nach Gerechtigkeit in unserem System verfolge ich mit Interesse und war sofort Feuer und Flamme, sie als Konzept für einen Psychothriller verwendet zu finden.
Doch die Umsetzung hat mich eher geschockt als überzeugt. Stellenweise hatte ich den Eindruck, einen Ratgeber "Foltermethoden heute" in Händen zu haben.
Wer sich diese Details an Blut und Schmerzen antun möchte, wird nicht eher Ruhe finden, als bis dem bestialischen Triebtäter endlich auf Seite 378 der Hals durchgeschnitten wird. Dank des schlichten Sprachstils liest sich die zweigeteilte Handlung, die parallel auf Helgoland und im Berliner Umland ihren dramatischen Verlauf nimmt, rasend schnell.
Zwei Mädchen, Lily und Rebecca, wurden von dem psychopathischen Sexualtäter Jan Sadler gefangen gehalten und auf ekelhafteste, entwürdigende Weise geschändet. Ihre Väter, Sven Martinek und Philipp Schwintowski, fühlen sich vom gesamten Justizapparat betrogen und beschließen, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. Alle sollen büßen, an vorderster Front Paul Herzfeld, der leitende Rechtsmediziner des BKA und ein Kollege Martineks.
Herzfeld hatte Lily vor vier Jahren auf seinem Obduktionstisch. In einem Tagebuch hatte sie von den furchtbaren Qualen berichtet, die der Vergewaltiger ihr zufügte. Aus Angst davor, was an womöglich noch Schlimmerem folgen könnte, hatte sie den Tod gewählt und sich erhängt.
Wenn Herzfeld seinen Bericht so verfasst hätte, dass der Tod des Mädchens unzweifelhaft dem überführten Sadler zugeschrieben werden könnte – hätte er ihn dem Staatsanwalt also als Mörder serviert -, dann wäre Sadler nicht mit fahrlässiger Tötung davongekommen. Weil Herzfeld sein Gutachten aber nicht so eindeutig gestalten mochte, wie sein Kollege Martinek das wünschte, fand Sadler sich nach gut drei Jahren wieder in Freiheit – und schnappte sich Rebecca Schwintowski. Sie musste das gleiche Martyrium durchleben wie Lily, und auch sie beendete ihr Elend selbst.
Herzfeld soll jetzt hautnah spüren, wie es sich anfühlt, wenn seiner Tochter dasselbe zustößt und er fürchten muss, das Liebste in seinem Leben zu verlieren. Martinek und Schwintowski entwickeln einen perfiden, nervenaufreibenden Plan. Sie halten Hannah Herzfeld irgendwo gefangen und schicken ihren Vater auf eine ganz spezielle Schnitzeljagd. Die Botschaften sind in Leichen versteckt, die er allerdings nicht selber sezieren darf; jemand anderes muss diese Arbeit für ihn tun.
Inzwischen verfolgt Danny, der Stalker, die Comiczeichnerin Linda so penetrant, dass sie sich schließlich nach Helgoland absetzt. Doch selbst dort kann sie sich nur kurz in Sicherheit wähnen, denn Geräusche, Gerüche und Veränderungen im Haus machen ihr Angst. Danny muss ihr ganz nahe sein. Da flüchtet sie lieber nach draußen, obwohl sie sich dadurch in Lebensgefahr begibt, denn orkanartige Stürme toben um die Insel. An der Brandungsmauer entdeckt sie eine Leiche …
Wie Linda nun zu Herzfelds rechter Hand wird, wie sie Leichen per Handy-Anweisung seziert und sich alles irgendwie logisch und durchaus gut gemacht zu einem Ganzen fügt, das soll Ihr ganz persönlicher Lesehorror werden.
Von den eingangs erwähnten hammerharten Folterszenen abgesehen, ist der Erzähl- und Konversationston durchaus "normal", ja leichtfüßig. So richtig will das weder mit den Grausamkeiten noch mit der heiklen Problematik der Selbstjustiz und der Gerechtigkeit zusammenpassen. Bisweilen sitzt den Autoren geradezu der Schalk im Nacken – dann platzen kleine humorvolle Geistesblitze wie Knallerbsen ("Schwulenradar", Hausmeister Ender "bin Laden"; Danksagung als Obduktionsbericht…). Etwas mehr von solch scharfem Esprit und stattdessen etwas weniger schartiger und blutverkrusteter Sadismus hätten dem Schnittchen gut getan und bei mir noch ein Sternchen mehr abgeschnitten …