Schweigen ist die beste Medizin
Henrys linke Socke hat sein Schicksal gewendet. Als er sechsunddreißig wurde, war er ein perspektivloses Nichts mit einem großen, dunklen Loch in seiner Vergangenheit. Acht Jahre später ist er berühmt, beliebt und begütert.
Auf der Suche nach dem fehlenden Kleidungsstück in einem fremden Zimmer unter dem Bett einer fremden Frau, an deren Namen er sich kaum erinnert, entdeckt Henry Hayden ein Manuskript. Wiewohl unscheinbar »eingewickelt in Backpapier«, vermag ihn der Stapel »aus dem Dunkel des Allgemeinen ins Licht des Besonderen« zu katapultieren. In diesem Moment freilich kann Henry noch nicht einmal ahnen, dass der Roman »Frank Ellis«, der da vor seinen Augen liegt, weltweit zehn Millionen Käufer und fünf Nachfolger finden und ihn, der nie ein Wort geschrieben hat, zum Star-Autor machen würde, in aller Welt mit Preisen und Lobeshymnen überschüttet.
Der Weg dorthin ist eine wunderbare, perfekte Symbiose des Gebens und Nehmens. Henry, bislang ein wurzel-, ziel- und skrupelloser Herumtreiber, wittert, dass aus Marthas Talent Gutes erwachsen kann, und wird bei ihr sesshaft. Das Schreiben betreibt sie wie eine Sucht. Kaum hat sie ein Manuskript beendet, ist es für sie abgehakt, verschwindet im Keller, wird keines Blickes mehr gewürdigt, denn schon hat sie ein neues begonnen. Um die Bewältigung des schnöden Alltags kümmert sich Henry. Wenn Martha Nacht für Nacht in die Tasten ihrer kleinen Schreibmaschine haut, um in ihrer »hermetischen Erlebniswelt« illustren Figuren Leben einzuhauchen und faszinierende Geschehnisse zu Papier zu bringen, begrüßt Henry sie am Morgen mit frisch gebratenen Spiegeleiern. Während sie dann über Tag ruht, kauft er ein und putzt, bastelt, repariert und hält den bescheidenen Hausstand in Ordnung. Außerdem liest er die neu entstandenen Seiten. »So wuchs ihre Liebe mit lautloser Selbstverständlichkeit«, bis die unscheinbare Martha und der gewiefte Henry, der sie ursprünglich nicht einmal unbedingt kennenlernen wollte, den Ehebund schließen.
Am Anfang ihrer ungeahnten Erfolgsgeschichte stand Henrys Versprechen an Martha, die wahre Verfasserin des Romans niemals preiszugeben, denn sie scheut die Öffentlichkeit, und der Literaturbetrieb ist ihr ein Greuel. Dann sandte er das Manuskript unter seinem Namen an vier Verlage. Claus Moreany war begeistert – er erkannte »etwas wirklich Wundervolles« – und griff zu. Der in Windeseile einsetzende Geldregen aus aller Herren Länder beglückte nicht nur den vorgeblichen Autor, sondern rettete auch den Verlag Moreany in letzter Sekunde vor der Insolvenz.
Das Leben eines Erfolgsschriftstellers kostet Henry in vollen Zügen aus. Im dunkelblauen Maserati braust er zu Lesungen und Buchmessen. Wenn der geniale Autor mit dem schüchternem Understatement im Rampenlicht glänzt, himmeln ihn alle Frauen an, und die Feuilletonisten erweisen ihm Ehre. »Jeder Satz eine Festung«, dieses Statement eines bekannten Literaturkritikers gefällt Henry besonders gut. »So schön kurz und prägnant«, der Satz hätte von ihm sein können. »War er aber nicht. Nichts war von ihm.« Alles bringt Martha hervor, genügsam, zufrieden, in sich gekehrt, unergründlich. Kommentarlos lässt sie ihn schalten und walten. So genießen Henry und Martha ein luxuriöses Dasein auf ihrem großzügigen Anwesen mit Scheune und eigener Kapelle – nur Nachwuchs bleibt leider aus.
Allerdings hat Henry etliche Seiten, von denen seine kreative Gattin nichts ahnt. Als er damals ›sein‹ Debüt zu vermarkten suchte und im Verlagshaus Moreany den Fahrstuhl aufwärts mit Cheflektorin Betty teilte, knisterte es heftig zwischen ihnen. Eine heimliche Liaison nahm ihren Anfang.
Jetzt haben wir die Bescherung. Betty sitzt verheult im Wagen, denn auf dem Ultraschallbild in ihren Händen ist ein Embryo zu erkennen. Der »Lurch« würde wachsen zu einer Person mit Rechten, Ansprüchen und Fragen. Henry schämt sich ein wenig. Wie soll er Martha gestehen, was da vorgefallen ist? Kurz spielt er seine Optionen durch: Reumütiger Selbstmord? – ein »Dichtertod« würde ihn unsterblich machen. Martha verlassen und sein Leben in Saus und Braus für Betty aufgeben? Keine attraktive Idee. Ein tragischer Unfall, der alles Lästige für immer beiseite räumt? Henry arrangiert ein Treffen an den Klippen. Dummerweise klappt nicht alles wie geplant, ihm unterläuft ein dummer Anfängerfehler und löst eine fatale Kettenreaktion aus ...
Sascha Arangos Debütroman »Die Wahrheit und andere Lügen« ist ein in coolen Tönen gehaltener Krimi, mehr spleenig als spannend, mehr zum Schmunzeln als zum Schaudern, mehr absurd-grotesk als realitätsnah. Die Literaturszene ist nur Kulisse, nicht Thema. Der turbulente Plot fesselt uns mit magnetischer Anziehungskraft, abstruse Situationen und unerwartete Wendungen halten uns ständig auf Trab. Die meisten Figuren tragen skurrile Züge, angefangen bei dem Protagonisten, einem Blender und Hochstapler, einem kriminellen und egoistischen Ekelpaket, bei dem »das sporadisch Gute ... nichts als eine kurze Unterbrechung des Bösen« ist und das doch auf befremdliche Weise fasziniert – seine fiktiven Mitbürger wie auch uns Leser.
Henry ist kein Perfektionist, aber ein geschickter Lavierer, der stillhalten und abwarten kann, bis sich störende Tatsachen oder gefährliche Täuschungen in Luft auflösen und ihm freie Bahn lassen. Wozu die Wahrheit hinausposaunen, wenn einem doch keiner glaubt? Manchmal ist es besser zu schweigen und darauf zu setzen, dass sich manches wie von selbst regelt – meist eher zum Guten als zum Schlechten. Tatsächlich können mit dieser Taktik Lügen und Wahrheiten in Henrys Leben ihren Aggregatszustand tauschen, je nachdem, was man ihn fragt, was er antwortet, was sein Gegenüber davon hören oder lieber überhören will.
Henrys Schöpfer Sascha Arango, 1957 in Berlin geboren, ist Drehbuchautor und mehrfacher Grimme-Preisträger. Fünf der ARD-Tatorte mit dem Kieler Kommissar Borowski stammen aus seiner Feder. Was seinem Helden widerfährt, stanzt Arango gern in hübsche Sentenzen, die so viel Wahrheit enthalten wie Sprichwörter: »Das Leben gibt dir alles, aber nie alles auf einmal.« – »Wohl dem, der nichts hinterlässt, er muss kein Urteil fürchten.« – »Jede Lüge (muss) ein Quantum Wahrheit enthalten. Ein Spritzer Wahrheit ist oft genug, aber er muss sein, wie die Olive im Martini.«
Am Ende verwischen sich Henry Haydens Spuren leider wieder. Nach der Logik der vorausgegangenen dreihundert höchst unterhaltsamen Seiten bedeutet dies, dass er bald wieder da sein dürfte. Oder auch nicht.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2014 aufgenommen.