Rezension zu »Der Kolibri« von Sandro Veronesi

Der Kolibri

von


Das unruhige Leben eines sensiblen Mannes auf der Suche nach Ruhe. Ein eindringlicher, spielerisch leichter und anspruchsvoller Roman, reich an außergewöhnlichen Charakteren und Beziehungen, an Tragik und Komik, an Höhen und Tiefen, an Emotionen und Intellektualität.
Belletristik · Zsolnay · · 352 S. · ISBN 9783552072527
Sprache: de · Herkunft: it

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Marco schwirrt durchs Leben

Rezension vom 29.12.2021 · 7 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Was für ein Autor! In den über siebzig Jahren des Premio Strega gab es nur einen Schrift­steller, dem dieser wohl bekann­teste italie­nische Literatur­preis gleich zwei Mal verliehen wurde: Sandro Veronesi. 2006 wurde er für »Caos Calmo« Sandro Veronesi: »Caos Calmo« bei Amazon (dt. »Stilles Chaos« Sandro Veronesi: »Stilles Chaos« bei Amazon, auch verfilmt auf DVD Sandro Veronesi: »Stilles Chaos« bei Amazon oder bei Amazon Prime Sandro Veronesi: »Stilles Chaos« bei Amazon Prime) ausge­zeichnet, 2020 für »Il colibri«. Nun liegt das prämierte Buch in der Über­setzung von Michael von Killisch-Horn auch auf Deutsch vor. Was für eine Erzählung! Was für eine Erzähl­technik! Der Roman ist ein literari­sches Experi­ment, eine mit leichter Feder verfasste Heraus­forderung, revolu­tionär, unkonven­tionell, anspruchs­voll, kreativ, lohnend. Er bietet genügend Stoff, um sich in Beobach­tungen, Deutungen und Diskus­sionen mit sich selbst und anderen auszu­toben.

Originalausgabe:
»Il Colibri«
(2019, Verlag La nave di Teseo)
Sandro Veronesi: »Il colibri« auf Bücher Rezensionen
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Einen Leitgedanken schlägt bereits das Paradox von Samuel Beckett an, das dem Roman als Motto vorange­stellt ist: »Ich kann nicht weiter­machen. Ich mache weiter.« Er schimmert für uns Leser immer wieder durch eine Familien­geschichte, die (von 1959 bis 2030) drei Genera­tionen im Verlauf des italieni­schen Wirtschafts­booms und seines Nieder­gangs umfasst, aber niemals chronolo­gisch oder sonstwie zusammen­hängend abgear­beitet wird. Vielmehr schnip­pelt der Autor das Epos, das sich uns am Ende zusammen­fügt, in zig Puzzle­teilchen, verwir­belt sie gründlich, mixt sie mit diver­gieren­den Perspek­tiven und unter­schied­lichen Text­formen (reine Dialoge, Brief­wechsel, Emails, histori­sche und politi­sche Exkurse, medizini­sche Frage­bögen, Essays über Spezial­themen wie Japan in Literatur und Film­produk­tionen, seiten­lange Bestands­listen von Einrich­tungs­gegen­ständen oder Zeit­schriften­samm­lungen). Obwohl die Prosa beste­chend scharf, fein­sinnig und elegant, dabei völlig unge­zwungen ist, kann das Lesen rätsel­haft und mühsam werden und dem Lesenden Durch­halte­vermögen abver­langen. Die einzigen Orien­tierungs­marken im Sammel­surium sind die Jahres­zahlen, die jedem Kapitel nebst kurzer Über­schrift vorange­stellt sind und mal voraus, mal zurück verweisen.

Im Mittelpunkt des Plots steht Marco Carrera, der 1959 in Florenz geboren wird. Seine Mutter ist Archi­tektin, sein Vater Ingenieur. Der hübsche Knabe ist sportlich begabt, ein talen­tierter Skifahrer und Tennis­spieler und ein ewiger Unruhe­geist, weswegen ihn seine Mutter »Kolibri« nennt. Die Wachs­tums­störung des Kindes lassen die Eltern mit Hormonen behandeln, und der Junge schnellt in die Höhe. Das lebens­froh anmutende Aus­gangs­szenario könnte auf einen abenteuer­lichen, fröhlich stimmen­den Handlungs­gang schließen lassen, doch was sich rund um das engere und weitere Lebens­umfeld des Protago­nisten im Verlauf seiner siebzig erzählten Jahre abspielt, ist »ein Leben, das schon häufiger auf null gestellt worden war«. Tragödien pflastern Marco Carreras Lebens­weg. Was ihn immer wieder voran­treibt, ist paradoxer­weise die Sehnsucht, endlich einen Ruhe­punkt zu finden.

Die Handlung mit all ihren Verästelungen zusam­men­fassen zu wollen wäre ein frucht­loses und überdies wenig hilf­reiches Unter­fangen. Ein Überblick über die familiäre Situation und ein paar Augen­blicks­auf­nahmen genügen. Wir lernen Marco im Jahr 1999 als vierzig­jährigen ange­sehenen Augenarzt in seiner Sprech­stunde kennen. Seine Ehefrau Marina arbeitet beim Boden­personal der Lufthansa, und sie haben eine zehn­jährige Tochter namens Adele. Marcos jüngerer Bruder Giacomo lebt mit seiner Ehefrau in den USA. Eine Schwester Irene ist in den Acht­ziger­jahren ertrunken. Der Roman beginnt gleich mit einem Pauken­schlag, der bedeut­same Weichen­stellun­gen auslöst. Ein herein­tretender unschein­barer Patient erweist sich als Marinas Psycho­analyti­ker Daniele Carradori, der den Kollegen aufsucht, um ihn wissen zu lassen, dass er »sich in großer Gefahr befinde«. Marco erlebt das Gespräch als unan­geneh­mes »Kreuz­verhör«: Zur Sprache kommen seine frühere Spiel­sucht und seine jahre­lange Beziehung zu einer anderen Frau namens Luisa, bis er schließ­lich erfährt, dass ihn Marina schon lange belügt, sie ihrer­seits einen Geliebten hat, von dem sie nun schwanger ist, und den Kontakt zum Psycho­logen abge­brochen hat.

Damit liegen etliche, aber längst nicht alle Spiel­karten eines Lebens auf dem Tisch. Weitere Hagel­schläge prasseln schwer auf Marco hernieder, doch er lässt Fortuna weiter ihr Rad drehen, ohne Einfluss zu nehmen, ohne sich zu wehren. Dabei hätte er beispiels­weise seiner Beziehung zu Luisa – eine lebens­lange, distan­zierte, plato­nische Liebe – durchaus eine andere Richtung geben können. Obwohl seine Eltern ihren Kindern wenig Zuwendung geschenkt hatten, reduziert er später, als ihr Zustand sich erheblich ver­schlech­tert, seine ärztliche Tätigkeit, um sie zu pflegen – eine wahre »Via Crucis«. Durch einen Kletter­unfall verliert er seine geliebte Tochter Adele. In all seinem schier uner­trägli­chen Elend findet Marco sein einziges Glück in dem 2010 geborenen Baby, das Adele hinter­lässt. Es heißt Miraijin und gibt dem Autor, wie der pro­grammati­sche Name (japanisch für »Mensch der Zukunft«) ahnen lässt, Raum für eine Utopie. Denn »der Mensch der Zukunft ist eine Frau«, und aus ihr wird »die neue Mensch­heit entstehen, die fähig sein wird, den Untergang zu überleben, den die alte verur­sacht hat«. Große Worte, allzu große Konzepte, nach meinem Empfinden.

So tief all die herben Schicksalsschläge und mensch­lichen Ent­täuschun­gen den Protago­nisten auch treffen, nimmt er sie doch als unver­änder­lich hin, mal mit Zynismus, mal mit Gleichmut. Zwischen­durch flattert er zum Glücks­spiel zurück und gewinnt trotz seines schlech­ten Karmas ein Vermögen.

Am Ende des verschachtelten Romans mit seinen überbor­denden Inhalten sind wir im Jahr 2030 ankommen, und Marco liegt unheilbar krank im Haus seiner längst verstor­benen Eltern. An seinem Bett versam­meln sich die wichtigs­ten Personen aus seinem Leben: Aus Deutsch­land ist Ex-Ehefrau Marina mit Tochter Greta angereist, Bruder Giacomo aus den USA; seine wahre Liebe Luisa ist da, und Psycho­analyti­ker Carradori wird helfen, Marcos Leiden zu verkürzen.

Im undurchsichtigen Erzähllabyrinth überlässt Sandro Veronesi seine Leser ihrem Schicksal. Sie müssen nicht nur den Plot selbst zusammen­reimen, sondern auch viele Seiten sprach­licher Kühn­heiten und wissen­schaftli­cher Erörterun­gen verar­beiten. »Die Blicke sind Körper« ist der Titel eines Referates, das Marco Carrera bei der akademi­schen Tagung »Die visuelle Wahrneh­mung zwischen Auge und Gehirn« abliefert. Ein zufällig gefun­denes Gedicht (»das trau­rigste Gedicht …, das jemals geschrie­ben wurde«) gibt Anlass zu Notizen über den buddhis­tischen Begriff dukkha (sanskrit, dt. »schwer zu ertragen«), über Entstehen und Verschwin­den allen Leidens und das Ende der Wieder­geburt. Bei der Leser­schaft können derlei Heraus­forderun­gen zu Erfolgs­erlebnis­sen, aber auch zu Frustra­tionen führen. Die renom­mierte italieni­sche Regis­seurin Francesca Archibugi wird sich, wie es heißt, der reiz­vollen, aber schweren Aufgabe stellen, all dies in eine filmische Version umzu­setzen.


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