Der Kolibri
von Sandro Veronesi
Das unruhige Leben eines sensiblen Mannes auf der Suche nach Ruhe. Ein eindringlicher, spielerisch leichter und anspruchsvoller Roman, reich an außergewöhnlichen Charakteren und Beziehungen, an Tragik und Komik, an Höhen und Tiefen, an Emotionen und Intellektualität.
Marco schwirrt durchs Leben
Was für ein Autor! In den über siebzig Jahren des Premio Strega gab es nur einen Schriftsteller, dem dieser wohl bekannteste italienische Literaturpreis gleich zwei Mal verliehen wurde: Sandro Veronesi. 2006 wurde er für »Caos Calmo« (dt. »Stilles Chaos« , auch verfilmt auf DVD oder bei Amazon Prime ) ausgezeichnet, 2020 für »Il colibri«. Nun liegt das prämierte Buch in der Übersetzung von Michael von Killisch-Horn auch auf Deutsch vor. Was für eine Erzählung! Was für eine Erzähltechnik! Der Roman ist ein literarisches Experiment, eine mit leichter Feder verfasste Herausforderung, revolutionär, unkonventionell, anspruchsvoll, kreativ, lohnend. Er bietet genügend Stoff, um sich in Beobachtungen, Deutungen und Diskussionen mit sich selbst und anderen auszutoben.
Einen Leitgedanken schlägt bereits das Paradox von Samuel Beckett an, das dem Roman als Motto vorangestellt ist: »Ich kann nicht weitermachen. Ich mache weiter.« Er schimmert für uns Leser immer wieder durch eine Familiengeschichte, die (von 1959 bis 2030) drei Generationen im Verlauf des italienischen Wirtschaftsbooms und seines Niedergangs umfasst, aber niemals chronologisch oder sonstwie zusammenhängend abgearbeitet wird. Vielmehr schnippelt der Autor das Epos, das sich uns am Ende zusammenfügt, in zig Puzzleteilchen, verwirbelt sie gründlich, mixt sie mit divergierenden Perspektiven und unterschiedlichen Textformen (reine Dialoge, Briefwechsel, Emails, historische und politische Exkurse, medizinische Fragebögen, Essays über Spezialthemen wie Japan in Literatur und Filmproduktionen, seitenlange Bestandslisten von Einrichtungsgegenständen oder Zeitschriftensammlungen). Obwohl die Prosa bestechend scharf, feinsinnig und elegant, dabei völlig ungezwungen ist, kann das Lesen rätselhaft und mühsam werden und dem Lesenden Durchhaltevermögen abverlangen. Die einzigen Orientierungsmarken im Sammelsurium sind die Jahreszahlen, die jedem Kapitel nebst kurzer Überschrift vorangestellt sind und mal voraus, mal zurück verweisen.
Im Mittelpunkt des Plots steht Marco Carrera, der 1959 in Florenz geboren wird. Seine Mutter ist Architektin, sein Vater Ingenieur. Der hübsche Knabe ist sportlich begabt, ein talentierter Skifahrer und Tennisspieler und ein ewiger Unruhegeist, weswegen ihn seine Mutter »Kolibri« nennt. Die Wachstumsstörung des Kindes lassen die Eltern mit Hormonen behandeln, und der Junge schnellt in die Höhe. Das lebensfroh anmutende Ausgangsszenario könnte auf einen abenteuerlichen, fröhlich stimmenden Handlungsgang schließen lassen, doch was sich rund um das engere und weitere Lebensumfeld des Protagonisten im Verlauf seiner siebzig erzählten Jahre abspielt, ist »ein Leben, das schon häufiger auf null gestellt worden war«. Tragödien pflastern Marco Carreras Lebensweg. Was ihn immer wieder vorantreibt, ist paradoxerweise die Sehnsucht, endlich einen Ruhepunkt zu finden.
Die Handlung mit all ihren Verästelungen zusammenfassen zu wollen wäre ein fruchtloses und überdies wenig hilfreiches Unterfangen. Ein Überblick über die familiäre Situation und ein paar Augenblicksaufnahmen genügen. Wir lernen Marco im Jahr 1999 als vierzigjährigen angesehenen Augenarzt in seiner Sprechstunde kennen. Seine Ehefrau Marina arbeitet beim Bodenpersonal der Lufthansa, und sie haben eine zehnjährige Tochter namens Adele. Marcos jüngerer Bruder Giacomo lebt mit seiner Ehefrau in den USA. Eine Schwester Irene ist in den Achtzigerjahren ertrunken. Der Roman beginnt gleich mit einem Paukenschlag, der bedeutsame Weichenstellungen auslöst. Ein hereintretender unscheinbarer Patient erweist sich als Marinas Psychoanalytiker Daniele Carradori, der den Kollegen aufsucht, um ihn wissen zu lassen, dass er »sich in großer Gefahr befinde«. Marco erlebt das Gespräch als unangenehmes »Kreuzverhör«: Zur Sprache kommen seine frühere Spielsucht und seine jahrelange Beziehung zu einer anderen Frau namens Luisa, bis er schließlich erfährt, dass ihn Marina schon lange belügt, sie ihrerseits einen Geliebten hat, von dem sie nun schwanger ist, und den Kontakt zum Psychologen abgebrochen hat.
Damit liegen etliche, aber längst nicht alle Spielkarten eines Lebens auf dem Tisch. Weitere Hagelschläge prasseln schwer auf Marco hernieder, doch er lässt Fortuna weiter ihr Rad drehen, ohne Einfluss zu nehmen, ohne sich zu wehren. Dabei hätte er beispielsweise seiner Beziehung zu Luisa – eine lebenslange, distanzierte, platonische Liebe – durchaus eine andere Richtung geben können. Obwohl seine Eltern ihren Kindern wenig Zuwendung geschenkt hatten, reduziert er später, als ihr Zustand sich erheblich verschlechtert, seine ärztliche Tätigkeit, um sie zu pflegen – eine wahre »Via Crucis«. Durch einen Kletterunfall verliert er seine geliebte Tochter Adele. In all seinem schier unerträglichen Elend findet Marco sein einziges Glück in dem 2010 geborenen Baby, das Adele hinterlässt. Es heißt Miraijin und gibt dem Autor, wie der programmatische Name (japanisch für »Mensch der Zukunft«) ahnen lässt, Raum für eine Utopie. Denn »der Mensch der Zukunft ist eine Frau«, und aus ihr wird »die neue Menschheit entstehen, die fähig sein wird, den Untergang zu überleben, den die alte verursacht hat«. Große Worte, allzu große Konzepte, nach meinem Empfinden.
So tief all die herben Schicksalsschläge und menschlichen Enttäuschungen den Protagonisten auch treffen, nimmt er sie doch als unveränderlich hin, mal mit Zynismus, mal mit Gleichmut. Zwischendurch flattert er zum Glücksspiel zurück und gewinnt trotz seines schlechten Karmas ein Vermögen.
Am Ende des verschachtelten Romans mit seinen überbordenden Inhalten sind wir im Jahr 2030 ankommen, und Marco liegt unheilbar krank im Haus seiner längst verstorbenen Eltern. An seinem Bett versammeln sich die wichtigsten Personen aus seinem Leben: Aus Deutschland ist Ex-Ehefrau Marina mit Tochter Greta angereist, Bruder Giacomo aus den USA; seine wahre Liebe Luisa ist da, und Psychoanalytiker Carradori wird helfen, Marcos Leiden zu verkürzen.
Im undurchsichtigen Erzähllabyrinth überlässt Sandro Veronesi seine Leser ihrem Schicksal. Sie müssen nicht nur den Plot selbst zusammenreimen, sondern auch viele Seiten sprachlicher Kühnheiten und wissenschaftlicher Erörterungen verarbeiten. »Die Blicke sind Körper« ist der Titel eines Referates, das Marco Carrera bei der akademischen Tagung »Die visuelle Wahrnehmung zwischen Auge und Gehirn« abliefert. Ein zufällig gefundenes Gedicht (»das traurigste Gedicht …, das jemals geschrieben wurde«) gibt Anlass zu Notizen über den buddhistischen Begriff dukkha (sanskrit, dt. »schwer zu ertragen«), über Entstehen und Verschwinden allen Leidens und das Ende der Wiedergeburt. Bei der Leserschaft können derlei Herausforderungen zu Erfolgserlebnissen, aber auch zu Frustrationen führen. Die renommierte italienische Regisseurin Francesca Archibugi wird sich, wie es heißt, der reizvollen, aber schweren Aufgabe stellen, all dies in eine filmische Version umzusetzen.