Samuels Buch
von Samuel Finzi
Der bekannte Film- und Theaterschauspieler Samuel Finzi erzählt seine Kindheit und Jugend im sozialistischen Bulgarien der Siebziger- und Achtzigerjahre.
Privilegien und Humor machen den Sozialismus erträglich
Samuel Finzi, 1966 in Plovdiv geboren, ist ein bulgarisch-deutscher Schauspieler. Kaum zählbar sind die Filme, in denen er in Haupt- und Nebenrollen zu sehen ist. Am populärsten wurde er wohl als ergebener Diener Carlos in der vierteiligen TV-Serie um den Lebemann »Allmen« (nach den Romanvorlagen von Martin Suter). Auf den Theaterbühnen hat er bedeutende Rollen souverän gemeistert, daneben in Hörspielen mitgewirkt. Neben vielen weiteren Auszeichnungen erhielt er 2016 den Deutschen Schauspielpreis in der Kategorie »Bester Schauspieler in einer komödiantischen Rolle« für »Worst Case Scenario«. Nun hat er seine Autobiografie vorgelegt, worin er von seiner Kindheit und Jugend im Bulgarien der Siebziger- und Achtzigerjahre erzählt.
Dem Einzelkind mit jüdischen Wurzeln ist das künstlerische Talent schon in die Wiege gelegt. Der Vater, Itzhak Finzi, ist ein gefragter Schauspieler, seine Mutter, Gina Tabakova, eine renommierte Pianistin. Die Familie gehört damit zur privilegierten Klasse in der sozialistischen Gesellschaft des Landes. Abgesehen von gelegentlichen Seitenhieben auf das diktatorische Unterdrückungsregime geht der Autor allerdings kaum auf politische Aspekte ein, sondern bleibt im Bereich privater Erlebnisse, ohne Pathos und ohne viel Aufhebens.
Samuel, als Junge »Sancho« genannt, verbringt seine Kindheit sowohl in der Hauptstadt Sofia, wo die Eltern arbeiten, als auch in Plovdiv, Bulgariens zweitgrößter Stadt, wo die Großeltern leben. Bei seinen Kumpeln ist er je nach Aufenthaltsort mal »ein kopele, ein Bastard, ein zugezogener Angeber aus der Hauptstadt«, mal ein »maina, ein […] Provinzler«. Statt sich darüber zu ärgern, genießt er die »doppelte Staatsangehörigkeit« und verteidigt die Vorteile der jeweils anderen Seite.
Die Mutter möchte ihr Kind vielseitig fördern und lässt ihn zunächst einen französischen Kindergarten besuchen. Die Schulzeit ist von ständigen Schulwechseln geprägt, die Samuel mit unterschiedlichen methodisch-didaktischen Ansätzen konfrontieren. Die Grundschullehrerin merkt früh, dass er unterfordert und gelangweilt ist, und schlägt eine experimentelle Schule ohne Notengebung vor. Weil das nicht lange gut geht, wird Samuel schließlich an einer Eliteschule angemeldet, wo die Kinder der Sozialismus-Bonzen ganz reaktionär in Latein, Altgriechisch und Sanskrit unterrichtet und ganz großbürgerlich in dicken schwarzen Limousinen hin und her kutschiert werden. Die außergewöhnliche Schule steht unter der Schirmherrschaft der Kulturministerin Ljudmilla Schiwkowa, Tochter von Todor Schiwkow, Führer der Kommunistischen Partei und Staatsoberhaupt von Bulgarien.
Auch wenn Samuels Eltern anderes behaupten, gehören sie natürlich zur privilegierten Schicht der ›klassenlosen‹ Gesellschaft, weswegen der Junge mehr Freiräume genießen kann als die allermeisten Altersgenossen. Das erkennt man zum Beispiel in seinen Erzählungen über die Sommerferien am Schwarzen Meer. Man fliegt dorthin, denn »Fliegen war für den einfachen sozialistischen Bürger erschwinglich und galt nicht als Luxus«. Am Ziel feiert die Bohème der Künstlerfamilien dann wieder unter sich und unbeobachtet, tanzt, singt und säuft bei ausgelassenen Partys, und auch die Kinder sind Herren ihrer eigenen Zeit.
Als weiteres kostbares Privileg der Elite-Familie Finzi fallen ihre Reisen in den Westen ins Auge, durch die die Mutter Samuels Weltbild gezielt erweitert. Dank hilfreicher Freunde und Verwandter im Ausland fällt es nicht schwer, die strengen Vorgaben der sozialistischen Willkürherrschaft zu erfüllen, mit denen das gemeine Volk am Weglaufen gehindert werden soll: Nur wer eine Einladung vorweisen und – als Sicherheit, dass man auch zurückkehrt – viel Geld hinterlegen kann, darf auf gnädige Zuteilung eines Visums hoffen. Aber auch Samuels Mutter führt ein strenges Regiment. Ihr Reiseprogramm ist straff durchorganisiert, damit der Junge in Venedig, Florenz, Siena, Lyon und Paris aristokratische und bürgerliche Kultur aufsaugen darf, aber keinesfalls den Giften des savoir vivre oder gar den Verführungen der westlichen Konsumgesellschaft erliegen soll. Als kurz vor Ende der Schulzeit eine Klassenfahrt nach Griechenland geht, bekommt deren Höhepunkt – im Amphitheater von Delphi selber ein Euripides-Drama im Original aufzuführen – Konkurrenz vom heimlichen Besuch der freilaufenden Jugend in einem Athener Pornokino.
Samuel Finzis Memoiren – sein Blick zurück auf Heimat und Herkunft, auf die in alle Winde verwehte Verwandtschaft, auf seine ersten Beobachtungen fremder und eigener körperlicher Erregungen und auf viele weitere Themen – sind eine locker verknüpfte Reihe von Anekdoten, stilsicher, unterhaltsam, warmherzig und mit Esprit und Schalk im Nacken erzählt. Schon die Kapitelüberschriften machen Appetit (»Was haben ein Schaf und ein Attentat gemeinsam?«).
Vor dem Wehrdienst scheinen alle jungen Männer gleich, wie das Kapitel »Von Fanfaren und Ziegen« nahelegt. Mit neunzehn wird Samuel dem Fanfarendienst zugeteilt. Da er von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, sind Blamagen, Demütigungen und Anfeindungen unausweichlich. Ein Spross der Oberklasse sollte auch solchen Unannehmlichkeiten ein Schnippchen schlagen können. Papas Beziehungen bahnen den Weg zu einer dramatischen Diagnose (»manische Depression mit Suizidgefahr«). Das unerbittliche Militär zeigt sich indes unbeeindruckt, so dass der Wehrpflichtige, nachdem eine kurze stationäre Behandlung in einer Psychiatrie seine Symptome etwas gebessert hat, doch noch in der vorgesehenen Einheit landet, und die hatte »den Status einer Strafkolonie«.
Obwohl der Autor sich als ganz normaler Typ präsentiert, scheinen seine Talente und sein Ausnahmewerdegang zwischen den Zeilen immer durch. Nach ersten Erfahrungen in einer Jugendtheatergruppe bewirbt er sich erfolgreich an der Staatlichen Theater- und Filmakademie in Sofia, kann dann dank eines Erbes von Tante Rosa aus São Paulo eine Theaterschule in Paris besuchen, wo ihn freilich die Arroganz des Direktors mit schneeweißem Seidenschal und weißen Handschuhen ebenso abstößt wie das Posenhafte der Schauspielschüler samt ihrer perfekten Artikulation (»viel Spucke«). Aus einer Phase völliger Desorientierung rettet ihn schließlich ein internationaler Workshop in Bonn.
Viele Jahre später landet Finzi im Dezember 1989 mit einer bulgarischen Passagiermaschine in Berlin-Schönefeld. Noch fühlt er sich als Fremder im Feindesland, hat den Eindruck, als Geheimagent in einem sowjetischen Kinofilm über den zweiten Weltkrieg mitzuwirken. Auf den Straßen »verschluckt ihn der Berliner Nebel«. Aber bald betritt der umtriebige Mann aus dem Nebel die deutschen Bühnen, um deutlich sichtbar zu werden.