Wenn unsere Welt zerspringt
von Samira Sedira
Fiktionale Annäherung an eine unbegreifliche, doch tatsächlich geschehene Bluttat, begangen von einem bis dahin unbescholtenen Dorfbewohner in einem abgelegenen Tal.
Ein Getriebener
Im Jahr 2003 erschütterte ein brutaler Mehrfachmord in der Provinz die französische Öffentlichkeit. Auch deutsche Medien berichteten ausführlich. Nun hat die französisch-algerische Autorin Samira Sedira den Fall, die »Affaire Flactif«, fiktional bearbeitet. Sie verlegt das Geschehen in das Jahr 2015 und erzählt es aus der Rückschau mit einem Abstand von zwölf Monaten, verquickt mit ausführlichen Passagen aus dem Gerichtsprozess. Als sehr persönliche Ich-Erzählerin hat Sedira die Lebenspartnerin des Täters gewählt – eine interessante Entscheidung für eine feinsinnige Beobachterin und messerscharfe Analytikerin am Rande des inneren Zirkels von Betroffenen, die nicht zögert, sich offen und schonungslos auch der Frage ihrer eigenen Verantwortung zu stellen.
Der Schauplatz ist ein Bergdorf in den Savoyer Alpen mit Rathaus, Post und ein paar Läden – ein geradezu paradiesisch erscheinender Ort der Stille. Nachdem im Sommer die Sonne auf Mensch und Tier herniederbrennt, dass man den Schatten suchen muss, kann das Tal im friedlichen Herbst wieder durchatmen. Im Winter schließlich liegt über allem eine angespannt wirkende Lautlosigkeit – das leiseste Geräusch zerstört sie brutal. Am Abend ziehen sich die Bewohner in ihre Häuser zurück, berichten einander beim gemeinsamen Essen, wie ihr Tag verlaufen, was ihnen Ungewöhnliches begegnet ist. Doch niemand hörte in der Winterstille, »als sie umgebracht wurden«, keiner ahnte etwas von einem »Blutbad hinter verschlossenen Türen«.
Auch die Erzählerin fühlt sich ohnmächtig angesichts der Tat, die ihr Mann begangen hat. Seine Gründe kennt sie nicht, sie muss sie erst erschließen, sein Wesen neu analysieren, und sie studiert ihn während des Gerichtsverfahrens wie einen Fremden. Gleichzeitig beobachtet sie, die ihre aufgewühlten Gefühle kaum noch steuern kann, sich selbst in ihrer ungewohnten Ratlosigkeit.
Von einem Tag auf den anderen hat sie ihre Unbescholtenheit verloren. Egal wie sie sich nach außen hin gibt, ihre Mitbürger beäugen sie als »Frau des Mörders«. Auch der Staatsanwalt impliziert eine Art Mittäterschaft, den Vorwurf eines »unsäglichen Mangels an Scharfsinn«, ein Versagen, aus dem ihr eine Mitverantwortung erwächst: Hätte sie nicht erkennen müssen, welch »widerliche Bestie in ihrem Gatten schlummert«, zumindest dass er sich verändert hat? Die Vorhaltungen treffen ihr Gewissen, und Anna zermartert sich die Seele. Ihre bisherige Welt ist unwiederbringlich zersprungen.
Was hat Constant Guillot zu seiner unvorstellbar brutalen Tat getrieben? Er legt ein allumfassendes Geständnis ab, »kalt, monoton, gefühllos«, berichtet den Hergang minutiös und schildert nachvollziehbar, wie die Wut über erlittene Demütigungen und Hass auf die Verursacher anwuchsen, bis sein innerer Vulkan unbeherrschbar ausbrach. Gleichzeitig erkennen wir durch Annas Vermittlung, wie er sich als Opfer des Schwarzen fühlt, der ihn in diese Tat getrieben habe.
An einem Samstag im Juli feierten die Dorfbewohner auf einem Bauernhof eine ausgelassene Hochzeit bis spät in die Nacht. Die Musik hatte schon an Elan verloren, etliche Gäste hingen erschlafft in wohligen Träumen, als noch zwei geladene Gäste erschienen, mit denen keiner mehr gerechnet hatte. Der Auftritt des dunkelhäutigen, ganz in Weiß gekleideten Paares in stockschwarzer Nacht war effektvoll inszeniert. Anna wechselt ein paar freundliche Worte mit ihnen, wird als »liebe Nachbarin« von ihnen eingenommen, ist dennoch erleichtert, als sich die beiden verabschieden.
Das waren Sylvia und Bakary Langlois, Annas und Constants neue Nachbarn, und niemand konnte ahnen, dass sie Opfer einer Bluttat werden würden. Sie fallen nicht nur wegen ihres Äußeren ins Auge (noch nie hatte es in der Gegend farbige Mitbewohner gegeben), sondern auch wegen ihres unübersehbaren Reichtums. Mit ihren drei Kindern (zwischen sieben und zwölf Jahre alt) beziehen sie ein nobles Chalet, das sie auf einem weitläufigen Grundstück erbauen ließen, in der Garage parken Luxusautos, ihr Lebenswandel ist glamourös.
Erzählerische Details deuten uns schon früh an, dass nicht alles zusammenpasst, was sich hier begegnet, und dass sich Ungewisses anbahnt. Die weltläufigen Neubürger treffen auf kleingeistige und xenophobe Dorfbewohner. Die streichen zwar gern die Einnahmen aus dem Sommertourismus ein, aber die vielen fremden Besucher dulden sie nur widerwillig im Ort, und was sie über Schwarze von sich geben, sind üble rassistische Klischees.
Auch zwischen den benachbarten Ehepaaren sind die Unterschiede groß. Annas Ehe ist seit Jahren auf das Alltägliche reduziert. Als sie sich in Constant verliebte, war er Hochleistungssportler. Dann veränderte ein schwerer Unfall tiefgreifend seine Persönlichkeit und seine Beziehung zu Anna. Doch für sie ist »Liebe« nicht messbar, schon gleich nicht nach ihrem äußeren Anschein. Wie die Langlois ihre Zärtlichkeiten zur Schau stellen, empfindet sie deshalb als künstlich und unbedeutend. Ganz anders Constant: Der gesteht freimütig seinen Neid auf das familiäre Glück, »die unfehlbare Liebe […], die Warmherzigkeit in ihrem Zuhause, die Lebensfreude« und den Wohlstand der Nachbarn. Solch eine Erfüllung war ihm nie vergönnt, und in seiner Lebenszeit kann er auf solche Erfolge nicht mehr hoffen.
Allerdings war auch Bakary Langlois’ Lebensweg steinig, wie er seinen neuen Nachbarn anvertraut. Seine Enthüllungen – beispielsweise, dass er als Kind armer Eltern in Gabun mit vier Jahren zur Adoption freigegeben wurde – lassen Constants anfangs reservierte Haltung weichen zugunsten von Respekt, Bewunderung und Sympathie – bis seine Gefühle später in Enttäuschung und Hass umschlagen und in unbegreiflicher Gewalt kulminieren.
Samira Sediras Roman »Des gens comme eux« wurde von Alexandra Baisch ins Deutsche übersetzt. Das kompakte Buch bietet mit seinem rätselhaften Kriminalfall und erschütternden Einblicken in die menschliche Psyche ein ungewöhnliches Leseerlebnis.