Der letzte Wolf
von S. A. Cosby
Ein schwarzer Südstaaten-Sheriff will es allen recht machen, aber die uralten Fronten sind verhärtet.
Ein Balanceakt in der Vorhölle
Der Afroamerikaner S. A. Cosby wurde 1973 in Virginia geboren, wo er in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und lebenslang persönliche Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung machte. Für das Schreiben hat er sich schon in jungen Jahren begeistert, dann englische Literatur studiert. Literarisch haben ihn bedeutende Autoren des Kriminalgenres wie Agatha Christie, Dennis Lehane, Elmore Leonard und Walter Mosley beeinflusst. In all seinen Romanen verbindet er Elemente des Kriminalromans und des Thrillers mit gesellschaftlichen Themen, insbesondere der Rassendiskriminierung. Kein Wunder, dass Ex-Präsident Barrack Obama seine Bücher schätzt und »All the sinners bleed« auf seine Sommerleseliste gesetzt hat. In der Übersetzung von Jürgen Bürger ist dieses Buch nun auch auf Deutsch erschienen.
Der Schauplatz liegt an der Chesapeake Bay, einem Meeresarm, der sich von Norfolk über 300 Kilometer nach Norden erstreckt, bis nach Washington D.C. und Baltimore. Auf einer der Halbinseln, die in dieses weitläufig verästelte Gewässer hineinragen, ist der Autor zu Hause, und dort, im Nirgendwo, hat er auch das fiktionale Kaff angesiedelt, in dem sich die Handlung im Jahre 2017 zuträgt. Gleich der Auftaktsatz – »Charon County wurde aus Blut und Dunkelheit erschaffen« – setzt einen düsteren Ton von geheimnisvoller Mystik, geahnten und durchlittenen Gefahren. Der Name spielt auf den mythischen Fährmann an, der die Toten über den Fluss Styx zum Eingang des Hades rudert, aber nur, wenn sie ihm ihren Obolus entrichtet haben. Im historischen Kontext von Virginia erinnert der Satz aber vor allem an eine lange Vergangenheit voller Grausamkeiten, geprägt vom Hass zwischen weißen Siedlern, Farbigen und Native Americans, von Bürgerkrieg, von Sklaverei, Unterdrückung, Rassismus, Lynchmorden und Polizeigewalt. Bis heute bestimmt gesellschaftliches Gegeneinander den Alltag.
Hier also ist Titus Alexander Crown, der 36-jährige Protagonist, geboren und aufgewachsen. Zehn Jahre lang hatte er in Indiana für die Abteilung Inlandsterrorismus des FBI gearbeitet, bis er, nachdem ein Einsatz in einem Blutbad geendet hatte, suspendiert wurde und seelisch am Ende war. Danach zog es ihn zurück in seine Heimatstadt, wo er Rückhalt bei seinem kränkelnden, seit 23 Jahren verwitweten Vater Albert und dem Bruder Marquis sucht, der nach dem Tod der Mutter den Kontakt abgebrochen hatte. Bald findet er in Darlene eine neue Liebesbeziehung, und mit Unterstützung der schwarzen Gemeinde der Baptist Church wird er zum ersten farbigen Sheriff in Charon gewählt. Seine Vorsätze sind so hoch gesteckt wie die in ihn gesetzten Erwartungen. Sein Vorgänger hatte sich gegenüber zwielichtigen Aktivitäten der weißen Einwohner blind gestellt und gleichzeitig simpelste Vergehen der Schwarzen streng geahndet – ganz im Einklang mit der Tradition der »Voreingenommenheit und Bigotterie«, die man im gesamten County und insbesondere in den Polizeibehörden pflegte. Im Gegensatz dazu will Titus ein korrekter, schützender Hüter der Ordnung für alle seine Mitbürger sein. »Protect and serve« steht auf seiner Dienstmarke, und die trägt er voller Stolz.
Im Verlauf der Erzählung lässt uns S. A. Cosby in private Abgründe einzelner Einwohner der äußerlich beschaulich anmutenden Kleinstadt blicken. Es geht um verdeckte, oft erst spät aufgeklärte Geheimnisse um Alkohol, Drogen, Gewalt gegen Schwächere, Homosexualität und andere aufwühlende Themen, und auch in Titus’ Familie gibt es lange Totgeschwiegenes.
In seinem Polizeidienst geht es zunächst wenig aufregend zu. Doch ausgerechnet am ersten Jahrestag seiner Wahl zum Sheriff dringt ein Bewaffneter in die Highschool ein und sorgt für Aufruhr. Während Schüler und Lehrer in panischem Chaos flüchten, sind Titus und sein Team umgehend vor Ort, stürmen die Schule, und zwei seiner Deputys erschießen den Angreifer, ohne zu zögern. Eigenartigerweise gibt es – anders als bei Amokläufen üblich – nur ein einziges Opfer: Der farbige Täter, ein ehemaliger Schüler, hat den weißen Erdkundelehrer Mr. Spearman mit mehreren Kopfschüssen niedergestreckt. Warum nur? In seinen 35 Dienstjahren war der Mann bei Schülern, Eltern und Kollegen gleichermaßen beliebt gewesen.
Bei ihrer Recherchearbeit finden die Polizisten Fotos, die Hinweise auf ein Motiv der Tat geben. Offensichtlich hat der Lehrer mit zwei Komplizen jahrelang schwarze Kinder und Jugendliche bestialisch gefoltert und ermordet. Der eine der Mitbeteiligten verbirgt sein Gesicht stets hinter einer Wolfsmaske und kann daher nicht einfach identifiziert werden, der andere ist überraschenderweise der Amokläufer, den die Deputys in der Schule übereifrig getötet haben.
So diszipliniert und ambitioniert der pflichtbewusste Sheriff Titus Crown seiner Suche nach dem einzig Überlebenden des Tätertrios nachgeht (inoffiziell nennt man ihn »der Letzte Wolf«), so schwer wird sie ihm gemacht. Nicht einmal angesichts der Tatsachen, die jetzt ans Tageslicht dringen, sind die Bürger bereit, ihre Verehrung für den stets geschätzten Lehrer zu revidieren. Von den zahlreichen schwarzen Aktivisten sind die meisten skeptisch, ob der neue Sheriff nicht mit seiner Dienstmarke auf die andere Seite übergelaufen ist und nun in Wahrheit gegen seine »brothers and sisters« agiert. Auch eine einflussreiche Respektsperson aus einem anderen Lager, der konservative weiße Gemeinderatsvorsitzende, hält Titus für unfähig, den Fall aufzuklären. Nicht anders als die Aktivisten hätte er das Büro des Sheriffs lieber mit einer leicht zu beeinflussenden Marionette besetzt gesehen als mit Titus, an dem er sich die Zähne ausbeißen muss. Und dann muss Titus auch noch feststellen, dass einer seiner Deputys korrupt ist.
Gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für das traditionelle Herbstfest, und auch dabei prallen unterschiedliche Auffassungen über die Geschichte der Südstaaten, persönliche und Gruppen-Interessen, unvereinbare Ideologien und unüberwindlicher Hass aufeinander. Fahnen schwenkende »Neo-Konföderierte« skandieren »White Lives Matter«, während sich »ein bunter Querschnitt der Bürger aus Charon County, […] Schwarze, Weiße, Latinx, Schwule, Heteros, Alte, Junge« den Rednecks entgegenstellt und die Friedenshymne »We shall overcoooooome« singt. Sollte dieser Showdown aufgeladener Emotionen zu einer Explosion physischer Gewalt führen, muss Titus das Schlimmste befürchten.
Nicht nur die Einwohner der Kleinstadt Charon County sind von Klischees geprägt, auch S. A. Cosbys Southern-Noir-Roman ist keineswegs frei davon. Der Autor hat ihn so konzipiert, dass er seinen Lesern eine deutliche politische Botschaft sendet: Die Weißen sind die Schlimmen und Verkommenen, die Farbigen und andere Minderheiten sind die von ihnen unterdrückten, ausgebeuteten, hoffnungslos machtlosen Opfer, im Kern aber die Guten. Ob eine hehre Absicht solch vereinfachend pauschalisierende Zuordnungen ausgerechnet nach Hautfarbe rechtfertigt, muss jeder selber entscheiden. Man kennt den Tenor seit der Civil-Rights-Bewegung der Sechziger, aber auch differenziertere Gesellschaftsbilder als die in diesem Roman.
Immerhin bietet der Autor ein zweifellos authentisches Bild des Lebens und der Zustände in seiner Südstaaten-Heimat. Scheinheiligkeit ist ein wichtiges Merkmal, und nicht ohne Grund bietet der Ort ein »Überangebot an Erlösung«. Sonntags zeigt man sich, wie es sich gehört, in seiner Kirche, »bei den Methodisten oder den Katholiken, bei den Baptisten, den Lutheranern oder den Zeugen Jehovas«, bei der erzkonservativen Holy-Rock-Gemeinde, deren Angehörige sich alle als »Gerechte« und »Gesalbte« auserwählt wähnen, oder man lässt sich hinreißen von fundamentalistischen Predigern. Im tiefsten Innern aber »setzen [die meisten Einwohner] ihren Glauben in die Patronen von Schrotflinten und .357ern, nicht in den Zimmermann aus Galiläa«.
Zwischen allen Fronten steht der dunkelhäutige Titus, der allen seinen Mitbürgern gerecht werden will. Nichtsdestoweniger hassen ihn die einen wegen seiner Hautfarbe, während ihn die anderen für einen »Verräter seiner Rasse« halten. Radikale Prediger gießen Brandbeschleuniger in die Glut des Hasses, und auch die Medien tragen zur Verschärfung der Konfrontation bei: »Blondes Haar und blaue Augen machen die Nachrichten«, während sie über Morde an schwarzen Kindern nicht berichten.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2024 aufgenommen.