Cloris
von Rye Curtis
Nach einem Flugzeugabsturz muss eine feine ältere Dame all ihre Kultiviertheit ablegen, um sich durch die Wildnis zurück in die Zivilisation zu schlagen. Gemeinsam mit einem Unbekannten – Schutzengel oder Verbrecher? – wird ihr Weg zu einer Entdeckungsreise in ein unbekanntes Ich.
Aufbruch in ein neues Leben
Mrs Cloris Waldrip war eine »Plaudertasche« und geistig vital. Im Altenheim hörte man der 92-Jährigen gerne zu, wenn sie 2006 aus ihrer Vergangenheit erzählte. Ihre Geschichte mochte ungläubiges Staunen auslösen, aber sie hatte sich tatsächlich als Knüller in den Medien niedergeschlagen – nicht zuletzt weil die Heldin der dramatischen Ereignisse damals schon 72 Jahre alt war. Wichtiger als die Abenteuer selber sind der Erzählerin aber die Erkenntnisse, die sie so spät in ihrem Leben noch daraus ziehen durfte: »Es ist schon erstaunlich, dass eine Frau den Herbst ihres Lebens erreichen kann, nur um festzustellen, dass sie sich selbst bislang im Grunde gar nicht recht gekannt hat.«
Schon damals – im Spätsommer 1986 – hält sich Cloris wohl nicht zu Unrecht für »ein Relikt der Vergangenheit«. Hinter ihr liegen 54 Ehejahre mit Richard (den sie durchgängig »Mr Waldrip« nennt), »ein freundlicher Mann mit einem Vogelgesicht«. In einem texanischen 2000-Seelen-Dorf führt das kinderlos gebliebene Paar ein beschauliches Leben im Ruhestand. Jetzt findet Mr Waldrip es aber an der Zeit, die erste Reise ihres gemeinsamen Lebens zu unternehmen. Extravaganzen haben ihnen von jeher ferngelegen, so würde ein Kurztrip nach Montana genügen. Einer Übernachtung im Big Sky Motel in Missoula soll als krönender Abschluss ein Rundflug über den Bitterroot National Forest folgen.
Es kommt zu einer Katastrophe. Die zweimotorige Cessna stürzt mitten im Wald ab, Cloris klettert blutüberströmt aus dem in Stücke gerissenen Wrack und braucht eine Weile, bis sie die bizarren Umstände erfasst und interpretiert hat. Der Pilot sitzt im Freien, noch immer angeschnallt auf seinem Sitz, sein Körper vom Aufprall grausam zugerichtet, und stirbt unter Wahnvorstellungen, während sie Mr Waldrip erst nach einer Weile auf einer hohen Fichte entdeckt, verblutet, tot, für sie unerreichbar. Geistesgegenwärtig spricht Cloris mehrere Hilferufe ins Mikrofon des Funkgerätes, bevor es seine Funktion einstellt.
Auf einigen Umwegen erreicht der Notruf die abgelegene Waldhütte von Forest Ranger Debra Lewis, die hier seit ihrer Scheidung elf Jahre zuvor ein isoliertes Dasein genießt, erfüllt von reichlich Rotwein, ihrer Lieblingssendung im Radio (»Fragen Sie Dr. Howe«) und ausgiebigen Wannenbädern. Erst als die Vermisstenmeldung der Ehefrau des Piloten mehr Klarheit schafft, organisiert man, so gut man kann, eine Suchaktion mit Helikopter-Unterstützung, doch sie ist mühselig und langwierig und wird immer wieder abgebrochen.
Rye Curtis debütiert mit einem originellen Plot, einer außergewöhnlichen Protagonistin und einem Set wunderbarer Figuren, und er beweist das Talent, daraus eine spannende, schier unglaubliche Abenteuergeschichte zu gestalten, die sich ermüdungsfrei über 77 Tage erstreckt. Die Handlung wird alternierend in zwei parallelen Erzählsträngen präsentiert: Ich-Erzählerin Cloris schildert ihre Erlebnisse in der Wildnis, während wir aus Debra Lewis’ Perspektive (in der 3. Person) über die Rettungsaktion und weitere Umstände auf dem Laufenden gehalten werden. Für gute Unterhaltung und Abwechslung sorgt eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure, gezeichnet mit einfühlsamer Empathie und subtilem, zartem Humor. Darunter sind etliche ambivalente und in sich zerrissene Charaktere, gescheiterte Existenzen, verlassene Ehemänner, auch skurrile und zugespitzt überzeichnete Figuren wie der hochnäsige FBI-Agent, der dem ausgebüxten Kriminellen »Arizona Kisser« nachspürt, die verwirrte Schoschonin Silk Food Maggie, spinnerte Geistersucher, die nachts mit Videokamera im Wald herumstreunen, oder Teenager, die auf ihren Drogen- und Sex-Eskapaden das Schutzgebiet verschandeln. So wechselt beim Lesen von abwechselnd grotesken, makabren, amüsanten und tragisch durchtränkten Szenen ständig unsere Stimmung.
Doch zurück zu Cloris, denn sie ist die beeindruckende Hauptperson. Sie steht, kaum dass sie den ersten Schock überwunden hat, vor existentiellen Entscheidungen. Soll sie, in der Annahme, ihr Funkspruch sei vernommen worden, am Absturzort auf Hilfe warten oder sich in Richtung der Rauchsäulen in der Ferne auf den Weg durch eine ungewisse Einsamkeit machen? Ihre Habseligkeiten könnten niemanden zuversichtlich stimmen: ihre Handtasche, das Time Magazine, ein Streichholzbriefchen, Karamellbonbons, ein Regenschirm, ein Stiefel ihres Gatten, ein Beil, eine zerfledderte Karte von Montana und eine blutbefleckte Jacke, die sie dem Piloten mühsam vom Leib gezogen hatte (»seine Gelenke knackten«). Doch Cloris fasst Mut und bricht auf.
Was folgt, sind die Herausforderungen eines dramatischen Überlebenskampfes. Wie macht man Feuer? Was ist alles essbar, was keinesfalls? Wie schützt man sich vor wilden Tieren? Wie vor Unwetter? Wo findet man einen sicheren Schlafplatz? Die Umstände zwingen zu Ungeahntem: ihren Körper in der Natur zu entleeren, nackt im Wasser zu baden, nach und nach jede Scham aufzugeben, alle Fesseln der Zivilisation abzustreifen. So wird Cloris langsam zu einer anderen Frau.
All dies beschreibt die alte Dame mit gutem Gespür für Struktur und Spannung sowie mit einer Mischung aus Sachlichkeit, Humor (ein verhaltensgestörter altersschwacher Berglöwe läuft rückwärts), Ironie und Sarkasmus (»Ich aß die komplette Mutterfledermaus und ihr ungeborenes Junges auf und nagte die Knochen ab. […] Es fiel mir nicht ganz leicht, sie zu zerkauen, da ich ja nur die Backenzähne benutzen konnte, seit ich meine Prothese im Fluss verloren hatte.«).
Trotz ihrer charakterlichen Reife und ihres Mutes führt ihr Martyrium sie an ihre Grenzen, bis sie bereit ist, aufzugeben, lieber zu sterben als weiter zu leiden. Doch dann bemerkt sie einen unsichtbaren Schutzengel an ihrer Seite. Mal entfacht er ein Feuer, mal hinterlässt er ihr einen rohen Fisch, mal einen Kochtopf mit einem kleinen enthäuteten Körper darin. Erst entsetzen sie diese Gesten eines geheimnisvollen Unbekannten, dann flößen sie ihr neuen Lebensmut ein. Nicht zuletzt dank der Fürsorglichkeit ihres Lebensretters (»alles was wir aßen, kochte er, bis es weich war«) entwickelt sich eine tiefe Verbundenheit, die ihr schließlich mehr bedeutet als die Rückkehr in die Zivilisation.
Mit »Kingdomtide« – der Originaltitel bezeichnet eine Phase im Kirchenjahr der Methodisten (»Trinitatiszeit«) – ist Rye Curtis ein tiefgründiges Debüt gelungen (großartig übersetzt von Cornelius Hartz), das den Leser überwältigt und lange nachhallt. Es schildert überzeugend die Wandlung zweier gänzlich ungleicher Frauen. Die ältere wird unvorbereitet aufs Äußerste gefordert, sie entdeckt in sich ungeahnte Fähigkeiten, erkennt die Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit ihrer vielen bisherigen Jahre und findet eine neue Lebensperspektive. Ähnlich, aber gegenläufig verlässt die tief frustrierte Rangerin Debra Lewis den Fluchtort in den Bergen, an dem sie sich aufgegeben hatte, und schöpft neue Hoffnung, um ein neues Leben zu beginnen. Alles an diesem Roman schreit nach einer Verfilmung – der Plot, die Protagonistinnen und andere pittoreske Figuren, die undurchdringliche, detailliert beschriebene Naturkulisse, die geheimnisvolle, bedrohliche Atmosphäre, der berührende Schluss.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2020/2021 aufgenommen.