Jeder ist sich selbst der Nächste
Ryan David Jahns Erstling "Ein Akt der Gewalt" basiert – ebenso wie Didier Decoins gerade erschienener Roman "Der Tod der Kitty Genovese" – auf einem realen Gewaltverbrechen. Am 13. März 1964 morgens gegen 4.00 Uhr wurde die 29-jährige Catherine Genovese, genannt Kitty, im New Yorker Stadtteil Queens brutal ermordet und vergewaltigt. Ihre Hilfeschreie wurden von vielen Nachbarn gehört; etliche Anwohner schauten sogar zu. Aber niemand übernahm Verantwortung und rief wenigstens die Polizei oder einen Rettungswagen. Dieses sozialpsychologische Phänomen wurde als "Bystander"-Effekt bekannt und weiter erforscht.
Ryan David Jahn bearbeitet diesen Fall allerdings völlig anders als Decoin. Während dieser – ähnlich wie die damalige Öffentlichkeit, die angesichts der unfasslichen Teilnahmslosigkeit geschockt war – im Grunde die Passivität der Zuschauer anprangert, interpretiert Jahn das Geschehen freier, gibt Opfer und Täter andere Namen (Kat und William) , erschafft Individuen, die alle mit ihren individuellen Problemen belastet sind, erzählt eindringlich die erschütternden Geschichten hinter den Gardinen anheimelnder Wohnungen sowie auf der Straße, ganz nah an Kats elendem Martyrium. Allen Beteiligten widmet Jahn gleich viel Raum, und auch der Täter (der bei Decoin kaltblütig handelt) ist bei Jahn ein Mensch – einer, der sich selbst hasst, der weiß, dass er seinen Trieb nicht steuern kann, der vielleicht nicht getötet hätte, wenn seine Frau Elaine ihn heute nicht hätte abblitzen lassen.
Passend zu seinem Konzept gliedert Jahn seinen Roman in viele kleine, in sich geschlossene "Acts of Violence" (so der Originaltitel im Plural – anders als der Singular des deutschen Titels) ; wir schauen hier in menschliche Abgründe, werden mit ergreifenden Schicksalen konfrontiert. Die Menschen nehmen das Geschehen im Hof zwar kurz wahr, kehren ihm aber schnell den Rücken, weil sie von ihren eigenen Problemen gefangen sind – und weil sie stillschweigend voraussetzen, dass sicher irgend jemand schon gehandelt hat ...
Zum Beispiel:
Thomas hat alle glauben lassen, er habe Frau und Tochter. Er schämt sich, dass er einer homosexuellen Neigung nachgegeben hat, dass er sich hat verführen lassen. Bevor er seinem verlogenen Leben ein Ende machen kann, taucht Christoph auf ...
Zwei Pärchen treffen sich zum Partnertausch. Der reine Sex bringt nur große Ernüchterung danach. Die Frage nach Liebe führt zu Frustration; die angestaute Wut auf das andere männliche Wesen, das beim Koitus überrascht wird, entlädt sich in Gewalt.
Besonders schockierend ist die Geschichte um den Cop Alan Kees, den Gesetzeshüter. Zwar hat er eine junge Frau schreien hören, aber selbst er denkt sich: "Soll sich jemand anderes drum kümmern. Ich muss meinen eigenen Scheiß regeln" (S. 83). Und seine Gewalttaten sind nicht minder schwerwiegend als die des Mörders William ...
In einigen der packenden Geschichten spielen Rassismus und der Vietnamkrieg eine Rolle – Themen, die in den Sechziger Jahren die Schicksale vieler Amerikaner entschieden, ohne dass sie sie beeinflussen konnten.
Ryan David Jahn hat das Schlechte im Menschen dargestellt. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch in der Lage, sein Gegenüber bewusst zu quälen, sowohl physisch als auch psychisch, und das, ohne jegliches schlechtes Gewissen aufkommen zu lassen. Vor dem Hintergrund ihrer hier beschriebenen Mitmenschen leuchtet Kat, der man nichts Böses nachsagen kann und die doch zum Opfer wird, geradezu wie eine Heilige.
P.S.: Ryan David Jahns "Der Akt der Gewalt" wurde mit dem renommierten Debut Dagger Award ausgezeichnet.