Rezension zu »Hannahs Briefe« von Ronaldo Wrobel

Hannahs Briefe

von


Belletristik · Aufbau · · Gebunden · 328 S. · ISBN 9783351035242
Sprache: de · Herkunft: br

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Geliebte Spionin

Rezension vom 27.04.2014 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Er will doch nur in Ruhe und Frieden leben, unauffällig »wie ein Bodengewächs: un­ter­halb der Schuss­linie«, nichts weiter tun als Schuhe reparieren. Dank glück­li­cher Umstände war es ihm 1928 gelungen, aus seiner polnischen Heimat nach Brasilien auszureisen, und nun führt er schon seit acht Jahren seinen klei­nen Schusterladen an der Praça Onze in Rio de Janeiro. In diesem Viertel haben sich viele jüdische Flüchtlinge wie er niedergelassen, doch er interessiert sich weder für Religion noch für Politik. Die Gründung eines jü­dischen Staates – »ein idiotischer Traum!« Erst kürzlich hat er einen Kommunisten, der vor seinem Laden Leute anwerben wollte, vertrieben: »Wenn Sie die Welt verbessern wollen, lernen Sie erst mal, Ihre Schuhe zuzubinden.«

Doch nun haben die Zeitläufte den polnischen Juden Max Kutner wieder eingeholt. Er sitzt in einem düste­ren Raum der Polizeiwache. Was wollen Major Filinto Müller, Hauptmann Avelar und ihre Schlägertruppe von ihm? Die Elitepolizisten wurden in Nazi-Deutschland ausgebildet, um gegen subversive Linke vorzu­gehen. Ein kommunistischer Umsturz ist, was Präsident Getúlio Vargas, der Brasilien seit 1930 regiert, fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Die Roten könnten seinen großen Plan vereiteln, einen neuen Staat (»Estado Novo«) zu errichten, wie es seine europäischen Vorbilder Mussolini und Hitler vorgemacht haben. Zu den Hauptverdächtigen gehören »die Juden«, die deshalb scharf bespitzelt, beim geringsten Indiz vor Sondergerichte gestellt und kurzerhand verurteilt, schlimmstenfalls an Nazi-Deutschland aus­ge­lie­fert werden. Hat sich Max suspekt verhalten?

Avelar stellt jedoch ganz unerwartete Fragen: »Sind Sie bereit für einen Dienst am Vaterland?« Max soll für die Obrigkeit die Post der Juden durchsehen, die hebräischen Schriftzeichen ins Portugiesische übertra­gen.

Echte Wahlfreiheit wird Max wohl kaum bleiben, aber trotzdem befragt er, ehe er sich entscheidet, seinen zuverlässigsten Ratgeber, den verstorbenen Großvater Shlomo, dessen Porträt die einzige Zierde seines kleinen Zimmers bildet: »Darf ich meine eigenen Landsleute ausspionieren?« Und Shlomo antwortet, Max trage keine Schuld, denn er werde nur benutzt; die Auftraggeber machten sich schuldig. Diese Sichtweise verblüfft Max, denn bisher hat Großvater »stets die ›Befehlsvollstrecker‹ verurteilt, die im Namen des Za­ren mordeten und raubten«, und immer wieder hat er seinen Enkel ermahnt, »das Bewusstsein unterscheide die Menschen von den Tieren« ...

Derart legitimiert sitzt Max von nun an zwei Nachmittage in der Woche in der winzigen Schreibstube der furchterregenden Hauptwache, in deren Keller Gefängniszellen warten. Stapelweise liegen auseinanderge­faltete Briefe vor ihm, die man ihren schützenden Umschlägen entnommen hat. Was er zu lesen bekommt, sind belanglose Familienberichte über »Gesundheit, Entbehrungen, Religion, Geld«.

Dann aber läuft ein Briefwechsel durch seine Hände, seine Augen und sein Herz, der ihn für eine ganze Weile aus dem Gleichgewicht werfen und begleiten wird, bis er, hundert Jahre alt und in einem Altenheim zurückgezogen, das Ende seiner Tage erreicht.

Guita aus dem argentinischen Buenos Aires tauscht die Briefe mit ihrer Schwester Hannah in Rio aus. Als »wunderschön [und] intelligent« bezeichnet sie Guita, und Hannah sagt von sich selber, sie »versuche, ein guter Mensch zu sein, indem ich meinen eigenen Überzeugungen folge«; »vielleicht«, so mutmaßt sie, »ist die aufrichtige Liebe der Gott der Vernünftigen«.

Die unbekannte Frau mit diesem Credo übt eine derartige Faszination auf Max aus, dass sie ihn radikal ver­än­dert. Denn dass Max jemals eine feste Beziehung eingehe, hieße, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr ga­lop­pie­re. Den Heiratsvermittler, der regelmäßig in seiner Werkstatt auftaucht, um sein reich gefülltes Album geeigneter Kandidatinnen aufzublättern, schickt er ebenso regelmäßig zum Teufel. Das bedeutet frei­lich nicht, dass er der Weiblichkeit als solcher abgeschworen hätte. Gewisse Etablissements (»Mu­lat­tin­nen«) erfüllen seine Bedürfnisse zu vollster Zufriedenheit und ersparen ihm Ehe, Kinder, Enkel und die ganze »fragwürdige, streitsüchtige und verlogene Spezies«.

Dass so ein Mann nun plötzlich in Liebe zu einer Fremden entflammt und sich in ihr Leben aufmacht, mag in der schnöden Realität unwahrscheinlich sein, in der Fiktion ist es jedoch gestattet – zumal der Protago­nist dadurch in eine atemberaubende, abenteuerliche Geschichte hineingezogen wird. Sie nimmt ihren Lauf, als der Zufall die leibhaftige Hannah eines Tages in Max' Laden hineinstolpern lässt, um ein Paar schwarze Schuhe aus der Reparatur abzuholen. Sie ist »vollkommen ... ein Meisterwerk, eine Laune Got­tes, seine auserwählte Tochter«, und um Max ist es geschehen.

Er beobachtet sie, verfolgt sie, wartet wie ein treues Schosshündchen darauf, von ihr wahrgenommen zu werden. Es gelingt ihm, in die »Rolle des geschlechtslosen Freundes und Ratgebers« zu schlüpfen, wo er hofft, ein paar Streicheleinheiten zu erfahren. Die Angebetete ist sich des Ungleichgewichts, ihrer einseiti­gen betörenden Ausstrahlung durchaus bewusst. Aber sie wird nie jemanden lieben können ...

»Hannahs Briefe« von Ronaldo Wrobel (»Traduzindo Hannah«, übersetzt von Nicolai von Schweder-Schrei­ner) ist eine spannungsgeladene, wendungsreiche Liebesgeschichte vor historischer Kulisse. Sie ver­setzt uns auf einen anderen Kontinent und in eine dunkle Zeit. Doch die Verbrechen dieser Periode ste­hen eben­so wenig im Mittelpunkt der Handlung wie das kulturelle Leben der jüdischen Exilanten; beides bleibt im Hintergrund und beeinflusst lediglich die Atmosphäre.

Das zentrale Thema des Buches ist vielmehr die Frage nach dem, was der Mensch ist, was er sein möchte, warum er das nicht ist, und der Autor scheint damit ein geistreiches Verwirrspielchen zu treiben, das die Romanstruktur definiert und bis in die Formulierungen reicht: »Das größte Paradox liegt im Übrigen darin, dass, wenn der Mensch nicht danach streben würde zu sein, was er letzten Endes nicht ist, er am Ende zu dem würde, was er nicht ist.«

Beide Hauptfiguren sind nicht die, als die sie sich vordergründig darstellen bzw. beschrieben werden. In­dem sich ihre Geschichten entfalten und verbinden, kommen mehr und mehr verblüffende Geheimnisse ans Licht, enthüllen sich ihre wahren Identitäten und mancherlei Gemeinsamkeiten: So arbeitet auch Hannah freiwillig als Spionin des Regimes. Während ihre schicksalhafte Vorgeschichte (im Osteuropa der Zwanzi­ger Jahre) uns Lesern häppchenweise und unvorbereitet aufgedeckt wird, bleibt Max vieles davon ver­schlos­sen – und Hannahs Wesen bleibt ihm ein Rätsel.


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