Abgeschottet
Achtzehn Millionen Besucher überfluten alljährlich den kleinsten Staat der Welt, vier Millionen davon drängen sich durch die überwältigend reichen Kunstsammlungen seines Palastkomplexes und dessen Höhepunkt, die Sixtinische Kapelle mit Michelangelos grandiosen, in frischen Farben erstrahlenden Fresken. Niemand aber darf dort eintreten oder sich nur annähern, solange das wohl exklusivste aller Wahlgremien tagt.
Wenn das Oberhaupt der katholischen Kirche, einer weltumspannenden Organisation mit mehr als 1,25 Milliarden Gläubigen, verstorben ist, reisen die Kardinäle aus aller Herren Länder an, um aus ihrer Mitte den Nachfolger zu wählen. Die Dauer der Wahl ist nicht begrenzt, aber Eile ist geboten, damit das Machtvakuum der Führungslosigkeit nicht länger als unbedingt nötig währt. Im Jahr 1216 verloren die Einwohner von Perugia die Geduld mit ihren säumigen Würdenträgern, schlossen sie kurzerhand ein und begründeten damit die Institution des Konklaves (lat. cum clave: mit dem Schlüssel). Eine flotte Abwicklung konnte aber selbst diese drastische Maßnahme nicht garantieren: 1241 dauerte das Konzil in Rom 60 Tage, 1268 gar rund drei Jahre (1503 genügten andererseits wenige Stunden).
Das Verfahren verläuft nach rigiden Regeln unter strengster Geheimhaltung und konsequentem Ausschluss der Öffentlichkeit in einem abgeriegelten Bereich der Vatikanstadt. Per Schwur wird den Kardinälen absolute Verschwiegenheit auferlegt, jeder Verstoß würde mit Exkommunikation geahndet. Für die Zeit der Wahl sind die Männer (Höchstalter 80 Jahre) völlig abgeschottet von der Außenwelt. Kein Ereignis draußen dringt an ihre Ohren oder Augen, denn sie erhalten keinerlei Zugang zu Internet, Telefon, Handy, Tageszeitung, Fernsehgerät, Radio oder Medienvertretern.
Untergebracht sind die Wahlberechtigten in den Räumen des Gästehauses Casa Santa Maria, das die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul leiten. Nach Frühstück und gemeinschaftlicher Messe in der Capella Paolina begeben sie sich, in Purpur gewandet und mit dem Pileolus (Scheitelkäppchen) auf dem Haupt, per Pedes oder Bus zur Sixtinischen Kapelle. Zuvor haben Sicherheitsdienste alle Räumlichkeiten pingelig überprüft und präpariert, beispielsweise nach versteckten Mikrofonen gesucht und Störsender gegen jegliche Art von Lauschangriff eingebaut. Dann können die vorgesehenen Wahlgänge stattfinden, je zwei am Vormittag und am Nachmittag,.
Jeder Kardinal vergibt sein Votum im Vertrauen auf den Heiligen Geist, aber natürlich landet keiner der Stimmzettel spontan in der mit einem Teller bedeckten Urne. In sondierenden Gesprächen bilden sich Fraktionen; stille Absprachen und Komplotte lassen schließlich nach mehreren Durchgängen die erforderliche Zweidrittelmehrheit für einen Kandidaten (und damit die zukünftige Entwicklung der Kirche und die Machtverhältnisse in ihrem Apparat) zustande kommen. Weißer Rauch aus dem Schornstein der Cappella Sistina verkündet das Ergebnis: Habemus Papam!
Robert Harris hat über die geheimnisumwitterten, global relevanten Vorgänge auf engstem Raum einen großartigen Roman verfasst: »Conclave« , ins Deutsche übersetzt von Wolfgang Müller. Er positioniert den Anlass in die sehr nahe Zukunft, was einen etwas makabren Eindruck erweckt, denn er lässt den Papst 2018 an einem Herzinfarkt sterben. (Ähnlichkeiten des Verstorbenen mit Franziskus' Persönlichkeit und Programm sind unverkennbar, wenngleich dessen Name nie fällt.) In seinen letzten Lebensmonaten hatte den Heiligen Vater Unsicherheit geplagt, wie sich die Kirche nach ihm entwickeln werde. Im Glauben an Gott ist er gegangen, aber den »Glauben an die Kirche« hatte er verloren.
Während des folgenden Konzils dürstet die Öffentlichkeit wie immer nach den winzigsten Anzeichen, wohin die Reise gehen könnte, doch mehr als Spekulationen kann es nicht geben. Wer würde in dieser spannenden Phase nicht gern Einblick nehmen, was sich hinter den unüberwindlichen Mauern abspielt? In seinem fiktionalen, aber sehr realitätsnahen Szenario füllt Robert Harris die Leerstelle mit allem, was in dieser oder ähnlicher Variante vorstellbar erscheint. Fesselnd, unterhaltsam und kenntnisreich schildert er, wie sich aus der Riege der über hundert Kardinäle vier Favoriten herauskristallisieren. Die liberalen Reformer bevorzugen einen feinsinnigen Kardinal, die Traditionalisten stehen hinter dem bäuerlich-derben Kollegen aus Venedig. Gelingt es dem ehrgeizigen Streber aus Nordamerika, sich durchzusetzen? Oder könnte womöglich erstmals ein Afrikaner den Stuhl des Stellvertreters Gottes auf Erden erklimmen? Manchen Kandidaten treiben Eitelkeit, Ehrgeiz und Hoffnungen voran, andere fürchten die gewaltigen Bürden des angetragenen Amtes auf Lebenszeit oder sind gar Zweifler im Glauben.
Was der Autor am Ende als Ass aus dem Ärmel zieht, ist eine hammerharte, wenn auch weit hergeholt und konstruiert anmutende Überraschung. Dessen ungeachtet bietet der Roman vorzügliche Unterhaltung mit faszinierenden Einblicken in eine dem normalen Sterblichen unzugängliche religiöse Parallelwelt, eine von festen Statuten geregelte Domäne rivalisierender Männer. Rückwärtsgewandten Traditionalisten stehen weltoffene Erneuerer gegenüber, die freiere Gedanken, etwa zur Haltung ihrer Kirche zu Frauen, Sexualität oder sozialen Problemen zulassen. Bemerkenswert sind die detailreichen Beschreibungen der Räumlichkeiten, Kunstwerke und Reichtümer des vatikanischen Universums (inklusive einiger Skurrilitäten).
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2017 aufgenommen.