Die Frauen von Shonagachi
von Rijula Das
Eine der unzähligen rechtlosen Sexarbeiterinnen in Indien wird ermordet.
Lebenslänglich an der Kette des Patriarchats
Dieser Roman hat viele Gesichter. Vom Plot her ist es ein Kriminalroman, denn ein Mord muss aufgeklärt werden. Es ist aber auch ein sozialkritisches Buch, das seine Leser mitten hinein führt in ein gern verdrängtes Milieu, nämlich die Prostitution. Die ist nirgendwo so eiskalt und straff durchorganisiert wie in Indien. In Kalkutta (heute: Kolkata), wo sich die Handlung zuträgt, befindet sich nach den Worten der Verlegerin das »Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft« der größten Sexindustrie der Welt. Dies ist dann die dritte Ebene, wegen der das Buch uns interessieren kann: als authentischer Einblick in eine Kultur, die so ganz anders ist als unsere europäische und die, global betrachtet, im Aufwind ist, mit der wir uns also beschäftigen sollten. Schließlich ist es ein Roman, der sich deutlich für die Interessen der Frauen einsetzt, in dem Frauen die Hauptrollen spielen, der von Frauen geschrieben, übersetzt und verlegt wurde.
Die Autorin heißt Rijula Das, ist in Westbengalen aufgewachsen und promovierte 2017 an der Nanyang University in Singapur in Creative Writing/Prosaliteratur. Im September 2022 legte sie mit »Small Deaths« ihr Debüt vor. Das entdeckte die Hamburger Verlegerin Else Laudan und machte es zu ihrem Herzensanliegen. Sie übersetzte es mit Empathie und »Vergnügen« ins Deutsche und verlegte es in ihrem Argument-Verlag in der Reihe »Ariadne«, mit der sie Autorinnen fördert, die im Krimigenre niveauvoll und spannend problematische Sozialstrukturen offenlegen und anprangern.
Der »Blaue Lotus« ist ein berühmt-berüchtigtes Etablissement in Asiens größtem Rotlichtviertel. Wie viele Frauen in wie vielen Zimmern in dem fünfstöckigen Altbau untergebracht sind, weiß niemand so genau. Eine von ihnen ist Mohamaya (»Maya«), eine klassische Schönheit von 28 Jahren, die hier als Edel-Escort und Prostituierte arbeitet. Geleitet wird das Unternehmen von der selbstherrlichen Shefali Madam, die vor allem ihren eigenen Vorteil im Auge hat und nicht davor zurückschreckt, Naivität, Nöte und Abhängigkeit der Frauen unter ihrer Obhut auszubeuten. Doch die Zeiten ändern sich, seit die Mädchen Mobiltelefone haben, mit denen sie ihre Kunden selber aussuchen und eigene Geschäfte vereinbaren können. So ist die ›natürliche Ordnung‹ der Dinge im Umbruch, und Schmiergelder, Beteiligungen, Proporz und Deals unter der Hand sind gefährdet.
Eines Nachts wird Maya ermordet. Man findet sie in einer Blutlache liegend, ihre Kehle wurde brutal mit einem abgebrochenen Flaschenhals durchtrennt.
Der Schauplatz wechselt nun in das Burtolla-Polizeirevier, dessen Leitung vor Kurzem an Samsher Singh übertragen wurde. Soeben genießt er in aller Ruhe sein Statussymbol, die ihm allein vorbehaltene Privattoilette, als sein »neuester Rekrut« Naskar an die Blechtür klopft. Der ist sich der Unverschämtheit seines Störens bewusst und meldet mit der Situation angemessener »Samtstimme«, dass eine Prostituierte ermordet worden sei.
Kollege Constable Balok Gosh ist bereits aktiv. Der »aufstrebende Zuhälter«, den er ins Polizeirevier einbestellt hat, rät den Gesetzeshütern, sich nicht einzumischen – »solcher Scheiß passiert einmal im Monat«. Diese Meinung eines Insiders des Milieus spricht dem erleichterten Samsher aus dem Herzen, denn »das byzantinische Geflecht aus Verbrechen und Gewalt und Beteiligungen und Bestechung war einfach zu anstrengend, und was bekam man schon für seine Mühe? Beamte wie ihn gab es wie Sand am Meer, und das Polizeirevier Burtolla interessierte kein Schwein«.
Doch schon seit ein paar Tagen demonstriert eine »Rotte Huren« vorm Revier, und nun insistiert ärgerlicherweise eine Madame mit Visitenkarte, vom Revierchef gehört zu werden. Samsher versucht, sie erst einmal mit devotem Gesäusel zu beeindrucken (»Sie sind eine gebildete Person, die Crème de la Crème der Gesellschaft«), doch ihr Lächeln kann nicht darüber hinweg täuschen, dass sie seine hohlen Worte ignoriert. Sie hat Beziehungen zu Menschenrechtskommission und Justiz und besteht auf einer ausführlichen Anzeige des vorsätzlichen und grausamen Verbrechens an »Miss Mohamaya Mondol«.
Derweil lernen wir eine Zimmernachbarin und etwa gleichaltrige Freundin von Maya namens Lalee kennen. Wie es in vielen armen Familien auf dem Lande üblich ist, hat ihr Vater sie, als sie sieben Jahre alt war, in die Prostitution verkauft. Sein jüngster Sohn hingegen war stets sein ganzer Stolz. Nach dem Tod des Vaters steckt er in großen Schwierigkeiten: Wie soll er ohne finanzielle Unterstützung das Haus reparieren, die Kinder weiter zur Schule schicken? Die Genossenschaftsbank bietet einen kleinen Kredit, aber er richtet seine Hoffnungen auf die Schwester in der fernen Großstadt.
Nach der weiten Reise sieht Lalee dem Bruder die Not auch körperlich an, aber anders als Maya arbeitet sie nur in der B-Liga der Prostitution und kann die gewünschte Summe niemals zusammenbringen. Da bietet sich Shefali Madam als gütige Beschützerin an und wirft Lalee einen großzügigen »Rettungsanker« zu. Wenn sie zukünftig Maya ersetzt, will sie sie nach dem »Adhiya-System« betreuen. Das bedeutet in der Branche der Sexarbeiterinnen zwar den Aufstieg aus der Leibeigenschaft, aber 50% ihrer Einnahmen muss sie an Shefali Madam abgeben. Deshalb musste Maya auch Kunden außerhalb des »Blauen Lotus« mit seiner einigermaßen geschützten Frauengemeinschaft annehmen. Das mögen teils »gute« Jobs gewesen sein, doch wie Lalee weiß, hat Maya auch mehrfach durchzubrennen versucht. Genauer nachzufragen, »was da draußen lief«, hat sie sich nie getraut. Nun wird sie selber diesen risikobehafteten Weg beschreiten müssen und gerät in ein undurchschaubares, hoch gefährliches Netzwerk.
Rijula Das hat über mehrere Jahre ausführlich recherchiert, worüber sie dann in ihrem Debütroman schrieb. Ihr lag am Herzen, die ausweglose Lage der Sexarbeiterinnen in der radikal patriarchalen Männerwelt Indiens darzustellen: ihre Abhängigkeit und Rechtlosigkeit, ihre materielle Not und ihr Ausgeliefertsein an sexuelle Gewalt. Am internationalen Menschenhandel von Indien über Thailand nach Arabien verdienen alle, »sogar die, die ihm angeblich ein Ende machen wollen«. Erwähnenswert ist, dass Rijula Das in ihre Erzählung neben den erschütternden Fakten und (fiktionalen) persönlichen Tragödien gehörige Prisen von Humor und Ironie einstreut und ohne quälende, abstoßende Schilderungen von Gewalt oder sexuellen Praktiken auskommt, ohne dass die aufrüttelnde Wirkung ihres Buches geschmälert würde.
Als Ergänzung hilfreich sind schließlich die Zusatzinformationen, die die Übersetzerin Else Laudan in ihrem Vorwort und einem Glossar bereitstellt.