Jenseits der Erwartungen
von Richard Russo
Drei Männer treffen sich vier Jahrzehnte nach ihrer Collegezeit wieder. Das große Geheimnis, das seit damals ungelöst ist, können sie nun nicht mehr länger verdrängen.
Die Wahrheit drängt ans Licht
Für Amerikaner klingt »Martha’s Vineyard« unwiderstehlich nach good old times, Entspanntheit und Wohlstand. Die unscheinbare Insel vor Cape Cod (Massachusetts) ist ein aus der Zeit gefallenes Refugium für Millionäre und Präsidenten (der Kennedy-Clan und Obama war da, Trump nie). In Chilmark, dem teuersten Dorf, steht seit Jahrzehnten das kleine Ferienhaus der Familie Moser, das allerdings kein Hehl aus seinem Alter und seiner Geschichte macht. Immerhin entwischte es schon einmal knapp dem Zugriff von Gläubigern.
Hier treffen sich 2015 drei alte Freunde aus Collegezeiten wieder. Sie sind alle Mitte sechzig und vom Leben gezeichnet wie das Haus, in das sie dessen Eigentümer Lincoln Moser eingeladen hat, wie schon 44 Jahre zuvor, als sie ein Wochenende lang ihre bestandenen Examina feiern wollten. Danach aber verliefen die Kontakte rasch im Sande. Es gäbe also viel zu fragen und zu erzählen, meinen wir, doch unbeschwerte Plauderstimmung und Wissbegier, geschweige denn Nostalgie und Feierlaune, will bei keinem aufkommen. Über den drei Männern schwebt nämlich wie ein Damoklesschwert eine Art ungelöster Cold case, und nur zögerlich erzählt jeder einzelne seine Sicht der Vergangenheit. Aber die Wahrheit will sich nicht länger unterdrücken lassen.
Lincoln ist Immobilienmakler aus Las Vegas. Die Geschichte seiner Familie ist voll von aufgeflogenen Illusionen und mühsam aufrecht erhaltenen Fassaden. Sein Vater, Kupferminenbesitzer in der Kleinstadt Dunbar, war die Karikatur eines Patriarchen. Schon sein Name (Wolfgang Amadeus Moser, was amerikanisch ausgesprochen dem Namen des Komponisten ähnelt) war Symbol der Überheblichkeit, sein »übergroßes Ego [stand] im Gegensatz zu seiner kleinen Statur« und der »Fistelstimme«. Mutter Trudy rühmt sich ihrer eigenen luxuriösen Herkunft aus einer Familie »wie die Kennedys«, ist aber im Übrigen unterwürfig und zartbesaitet. Unter Zufuhr einer gehörigen Dosis Alkohols schafft sie es eines Tages, ihrem geliebten Sohn die Wahrheit zu enthüllen – eine Geschichte der Verleumdungen, Fehlinvestitionen und des Unfalltods der Großeltern.
Teddy Novak ist »Kleinverleger« religiöser Literatur in Syracuse. Seine Eltern, blasierte intellektuelle Lehrer, die sich ihrer gesamten Umwelt überlegen fühlen, hatten für ihr einziges Kind von Anfang an keine Liebe übrig, enthielten ihm die erforderliche Fürsorge und Aufmerksamkeit vor.
Mickey Girardi ist »Musiker und Toningenieur« aus Cape Cod. In einfachsten Einwandererverhältnissen aufgewachsen, besteht der mittelmäßige Schüler, der immer den Weg des geringsten Widerstands geht (»Mr Easy«), den SAT-Test überraschenderweise als einer der Besten. Der begeisterte Gitarrenspieler will im Hauptfach Musik studieren.
Alle drei schaffen den Zugang zum Minerva College in Connecticut, einer der renommiertesten und teuersten Privathochschulen der USA. Da sie im Gegensatz zu den meisten anderen Studierenden nicht zur vermögenden Upperclass gehören, teilen sie sich ein Apartment und bessern ihr knappes Stipendium mit Nebenjobs auf. Von all den Kommilitoninnen am College fasziniert die »drei Musketiere« (»Einer für alle, alle für einen«) nur eine: Justine Calloway (»Jacey«), die sich wild und freiheitsliebend gegen alle Konventionen stellt. Sie wird zum »Mädchen ihrer kollektiven Träume«. Doch deren Leben ist bereits vorgezeichnet, denn sie ist mit einem reichen, dominanten Karrieretyp verlobt.
Am 1. Dezember 1969 wird im Fernsehen eine makaber anmutende Lotterie aus Washington übertragen, bei der es nicht um Geld, sondern um Leben und Tod geht. In der Lostrommel sind alle Daten des Jahres, und alle jungen Männer, deren Geburtstag gezogen wird, müssen demnächst als Soldaten in den grausamen Krieg im fernen Vietnam ziehen. Unter den drei Freunden trifft es nur Mickey. »Du Glückspilz!«, denkt Lincoln, als Jacey den völlig Überraschten spontan in ihre Arme schließt. Ehe Mickey nun einrücken muss und sich ihre Wege trennen werden, verbringt man zum Memorial Day 1971 noch ein letztes gemeinsames Wochenende zu viert in dem Ferienhaus, das Lincoln vor kurzem geerbt hat.
Dort bleibt ein Rätsel zurück. Ohne Abschied zu nehmen, verlässt Jacey am frühen Morgen in aller Stille das Haus. Ihre Spur verläuft sich, man sieht sie nie mehr wieder. Bei ihrem Treffen 44 Jahre danach erzählt jeder der drei Männer, wie es ihm erging – ernüchterte Bilanzen ihrer Lebensläufe –, das über allen lastende Thema Jacey aber wird nicht wirklich offen besprochen, so als habe jeder für sich ein Geheimnis zu verbergen. Einzig Lincoln stellt Nachforschungen an, recherchiert in alten Zeitungen, besucht einen Polizisten im Ruhestand, macht einen Verdächtigen aus.
Der amerikanische Autor Richard Russo (*1949) wurde 2002 für seinen Roman »Empire Falls« (erst 2016 in deutscher Übersetzung erschienen: »Diese gottverdammten Träume« ) mit dem Pulitzer-Preis geehrt. Jetzt hat er mit »Chances are …« , 2019 erschienen und von Monika Köpfer übersetzt, ein weiteres amerikanisches Meisterstück modernen realistischen Erzählens geschaffen. Der Roman (sein Titel zitiert einen Song von Johnny Mathis) spielt auf zwei Zeitschienen in Gegenwart und Vergangenheit. Letztere liefert mit der schwebenden Vermutung, Jacey könne einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein, und der daraus resultierenden Frage, wer dann der Täter und was sein Motiv war, einen roten Faden der Spannung, die mit vielen Wendungen wächst und den Leser bis zum Schluss vorantreibt. Dennoch ist sie nicht das Zentrum des Romans, und »Jenseits der Erwartungen« ist kein Kriminalroman. Vielmehr geht es dem Autor wohl um die sorgfältige Entwicklung und leichthändige, mit Ironie und klugem Witz gestaltete Zeichnung seiner Charaktere, ihrer familiären Herkunft, ihrer Lebenswege, ihrer individuellen Probleme. In ihrem Mikrokosmos spiegelt sich der Zustand der weißen amerikanischen Mittelschicht, die sich im täglichen Leben wacker durchschlägt, familiär mit menschlichen Unzulänglichkeiten zu kämpfen hat, die Folgen lebenslang in sich trägt. Wenn das Unvermeidbare wie Lehm am Schuh klebt, kann die Flucht nach vorn nur selten gelingen.
Auf überindividueller Ebene geht es um den eisern am Leben gehaltenen Mythos von der Chancengleichheit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Roman zeigt, dass familiäre Verhältnisse, Herkunft, Gene, Lebensform, Bildung, Glaube und Wohlstand nicht weniger ausschlaggebend für das Gelingen eines Lebenswegs sind als beispielsweise im alten Europa. Damit aber bleiben viele Chancen vielen verwehrt. Russos drei Protagonisten hatten eigentlich Glück und konnten ihre Vorstellungen doch irgendwie verwirklichen. Selbst Mickey entgeht den tödlichen Gefahren des Vietnamkrieges. (Dessen vielen Gefallenen hat Richard Russo dieses Buch übrigens gewidmet: »Für jene, deren Namen an der Mauer stehen«.) Bemerkenswert ist allerdings, dass der Autor etliche hochaktuelle Themen wie Rassismus, Diskriminierung und die Rolle der Frauen komplett ausgespart hat. Von Jacey abgesehen, stehen Frauen hier eher im Schatten als im Rampenlicht.
Dagegen deutet Russo an, wie zum Ende von Barack Obamas Amtszeit die politische Spaltung der Bürgerschaft zwischen den Anhängern von Donald Trump (»er ist Christ«) und denen von Hillary Clinton (»sperrt sie ein«) aufbricht. In Lincoln konkretisiert sich der Konflikt: Als erklärter Republikaner kann er zwar auf keinen Fall Hillary Clinton wählen, aber Trump verachtet er zutiefst. Als sein unsympathischer Nachbar (»ein Arschloch«) in seinem Garten ein Wahlplakat mit Trumps Konterfei aufstellt, fragt er ihn: »Aber den würden Sie trotzdem nicht wählen, oder?« Die Antwort ist sicher bezeichnend: »Ne, das ist nur dazu da, um die Leute aus Chilmark zu ärgern. […] Andererseits, wenn er nominiert wird, warum nicht?«