Rezension zu »La compagnia delle anime finte« von Wanda Marasco

La compagnia delle anime finte

von


Familienroman · Neri Pozza · · Taschenbuch · 238 S. · ISBN 9788854513938
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Neapel und Golf

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Das Purgatorium als Mosaik

Rezension vom 03.11.2017 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Am Totenbett von Vincenzina Umbriello sitzt ihre Tochter Rosa Maiorana. Sie betrachtet die Verstor­bene, spricht eindring­lich mit ihr. Sie will sich der Seele ihrer Mutter annähern, ihr Wesen verstehen. In einer langen Zwie­sprache mit ihr erzählt sie Vincen­zinas Lebens­geschichte.

Dies ist die Ausgangssituation von Wanda Marascos Roman »La compagnia delle anime finte«, eines erzähleri­schen Glanz­stücks zwischen Prosa und Poesie, Familien­epos und Psycho­gramm, indivi­duellen Schick­salen und dem Portrait einer ganzen Stadt, das für den Premio Strega 2017 kandi­dierte und bis in die Schluss­runde der letzten fünf Titel mit­mischte.

Rosa hält einen langen Monolog, der eine Unmenge kleiner Szenen aus Vincen­zinas Familien­geschichte aneinan­derreiht. Wie eine auktoriale Erzählerin schaut sie hinein ins Innen­leben der Menschen, kennt ihre Stimmun­gen und Gedanken, ihre Träume und die Gespens­ter, die sie heim­suchen. Das meiste entspringt natürlich ihrer kühnen Imagi­nation: »Non lo so se questa è la tua vera storia, ma sto imparando a costruirne una che ti somiglia.« Immer wieder wendet sich Rosa an die Mutter (»Ma', mi senti?« – »Sei venuta dal niente e dalla paura, ma'.«), wie um Nähe, Verge­wisserung, Anknüp­fungs­punkte zu suchen. Zwar folgt ihre Erzählung insgesamt der Chrono­logie, aber im Detail sind die kurzen Epi­soden (zwei oder drei Seiten lang) eher assoziativ verknüpft. Der Roman hat keine Gliede­rung in Kapitel und keinen durch­gehen­den Plot.

Das Leben von Vincenzina und ihrer Familie, wie wir es über mehr als einhun­dert Jahre hinweg geschildert bekommen, ist dramatisch, in mancher Hinsicht tragisch. Es sind freudlose Lebens­läufe, die keinen Raum lassen für Herzens­wärme und Liebe (nicht einmal für Freund­lichkeit), deren Heraus­forde­rungen ohne Chancen sind, die keine Zuver­sicht zulassen, Hoff­nungen zerstören, herbe Ent­schlossen­heit und Entsagung fordern. Sie sind ange­füllt mit Armut und Leid, Nieder­lagen und Demüti­gungen, Gewalt, Krankheit und Tod, sie sind gezeichnet von starken Emo­tionen wie Enttäu­schung, Missgunst, Eifersucht, Rache­gelüsten und Hass.

Es sind zwei Familien, deren Wege sich im März 1946 verschränken, als Rafele Maiorana, »un vero signore«, der siebzehn­jährigen Vincen­zina Umbriello begegnet. Deren Groß­mutter Adelì verbrachte ihr Leben in Villaricca, einem Land­städt­chen wenige Kilo­meter nördlich von Neapel. Hierar­chien und Zwänge begrenzten Denken und Verhalten, die kargen Lebens­umstände diktier­ten Sparsam­keit und Strenge auch gegen­über den drei Töchtern Iolanda, Vincen­zina und Italia. Adelìs Seele war verhärtet. Brutal rechnete sie mit ihrem un­treuen Ehemann Biasino ab, mitleid­los trieb sie ihre hüb­scheste Tochter Iolanda aus Eifer­sucht und Miss­gunst in den Wahn­sinn.

In der engen Umgebung ist Vincenzina ein bescheidenes, aber aufge­schlosse­nes, willens­starkes Kind. Erst Rafele weitet ihren Horizont, spricht vom Meer, von Amerika. Er stammt aus der Aka­demiker­familie Maiorana – Ärzte, Anwälte, Land­besitz, ein palazzo gleich am Dom –, ist darin aber ein Fremdling, der sich dem Leistungs­druck verweigert. Er verliebt sich in die arme Dienst­magd Vincen­zina, macht ihr den Hof und heiratet sie schließ­lich im Oktober 1947 – aus einer Mischung von Schwäche, Angst (vor Vincen­zinas Brüdern, die den Verführer zum Ehever­sprechen nötigen) und Trotz (gegen seine kontroll­süchtige, intri­gante Mutter Lisa, die die Schwieger­tochter ihr Leben lang verachtet). Durch ihre jewei­ligen Milieus geprägt – beide voller Zwänge –, erlangen beide keine persön­liche Souve­ränität. Wie ihre Mutter wird Vincen­zina eine harte, illusions­lose Frau, die auch die Untreue ihres Mannes schweigend erträgt.

Die Familie bezieht eine winzige Wohnung im elenden Rione Sanità an einer der Treppen­gassen, die hinauf zum Capodi­monte führen. Die Bewohner sind eine »compagnia«, eine Schicksals­gemein­schaft. Hier wächst Rosa, die Erzählerin, auf. Lehrer Nunziata, »saggio e pazzo«, fördert sie, Freundin Anna­rella fordert sie, und wie ein griechi­scher Chor begleiten »le orche«, die Tratsch­weiber, alle uner­hörten Vorkomm­nisse im Viertel, etwa das Gebaren des Nachbar­jungen »Mariomaria«, der lieber eine Frau wäre und ein tragisches Ende findet. Früh mit allen Härten des Lebens kon­fron­tiert, wird Rosa schnell erwachsen.

Als Rafele an Krebs erkrankt, verschuldet sich seine lebens­tüchtige Frau bei einem Wucherer, um die Medika­mente bezahlen zu können. Nach dem frühen Tod ihres Mannes beginnt sie selbst, Geld zu verleihen. Bei ihren Geschäfts­gängen zu den Unglück­lichen in den düsteren bassi des Viertels muss Rosa sie begleiten, weil sie rechnen und die Bücher führen kann.

Der Überblick zeigt, dass Vincenzina der Brennpunkt eines Romans über Frauen ist. Während die wenigen Männer darin schwach, unent­schieden oder charakter­lich frag­würdig erschei­nen, sagt die Autorin von ihren Prota­gonis­tinnen, sie seien »donne segnate da una nascita non fortunata, una mala educa­zione, un arresto della normalità, ma non vittime passive [...] tutte da indagare per capire quanto di loro è irre­parabil­mente guasto e quanto abbia ancora la qualità umana che consente il muta­mento, il progresso«. Mütter und die Kirche sind die wahren Autori­täten dieses Univer­sums; wer sich mit ihnen anlegt, erntet Rache.

Eine weitere Protagonistin des Romans ist Neapel. Selten habe ich die Atmos­phäre der Stadt am Vesuv so hautnah erlesen wie in Maras­cos Roman. Er greift tiefer und höher, vom könig­lichen Berg Capodi­monte über die Innen­stadt mit dem schwarzen Straßen­pflaster (basoli) bis hinab in die fins­teren Einge­weide von Napoli sotte­ranea. Dabei beschreibt Rosa die Schau­plätze gar nicht so explizit. Vielmehr erschaf­fen die Bewohner die engen Gassen, Treppen, Einraum­wohnun­gen, indem sie reden, schauen, sich bewegen. Die besten Szenen sind die, in denen Vincen­zina die Cento­scale hinab­läuft, ihre Blicke alles erfassen, was vor sich geht, hierhin und dorthin ruft, und später, wenn es schon dunkelt, mit Gemüse und Einkäufen beladen Stufe um Stufe empor­steigt. (Deswegen ist das Cover, ein Schwarz-Weiß-Foto von Pier­giorgio Branzi, ein wahrer Glücks­griff.) Andere faszinie­rende percorsi führen zum Hafen hinunter oder durch eine versteckte basso-Tür in den uralten, bis in die Neuzeit genutzten Unter­grund der Stadt.

Mit den Elendsvierteln des Rione Sanità kontrastieren die weit­läufige Stadt­villa der Maio­rana an der via Duomo mit ihrer verstaub­ten, freudlosen, einge­sperrten Vornehm­heit und die länd­lichen Szenen in Villa­ricca, wo es wenigs­tens Sonne und einen weiten Himmel gibt. Die Fahrt im Bummel­zug dorthin geht durch buko­lische Land­schaften und schenkt dem Reisen­den Muße zum Nach­denken.

Spröde wie ihr Leben sind die Dialoge der Figuren. Die Sätze sind kurz, die Bot­schaften deutlich, das Idiom ist der neapo­litani­sche Dialekt. Im Druckbild erkennt man schnell seine Regeln, und die Schreib­weise imitiert die Aus­sprache, die man viel­leicht in Filmen, Musik oder vor Ort kennen­gelernt hat (»Si' ’na cacasotto, t'aggio fatto vede' centi vvote comme se fa.« – »Che staie facenno?« – »Iolà, racconta ’n'ata vota, facce vede'!« – »Nisciuno me pò fa' cchiú paura.«).

Dies ist kein Roman, der Nostalgie aufkommen lässt, und keine leichte Lektüre. Das Voka­bular ist anspruchs­voll, das Gewirr von Namen, Orten, Episoden und die Zeit­sprünge erschweren den Über­blick, mancher Passus ist rätsel­haft. Aus den Mosaik­stein­chen der Szenen setzt sich aber nach und nach ein groß­artiges Bild zusam­men. Die Sprach­kraft der Autorin verleiht ihm seine reiz­vollen Schattie­rungen. Der ruhige Erzähl­duktus in Alltags­italie­nisch schafft einen festen Boden des Realis­mus, zu dessen Ver­ortung die dialek­talen Ein­spreng­sel beitragen. Am beste­chends­ten ist freilich Marascos Fähig­keit, mit ihrer lebhaften Bilder­sprache (»Il palazzo dove abita Rafele le va incontro come un'armatura.« »Le quattro operazioni le sentiva come i quattro cavalieri dell'Apoca­lisse.«) und der poeti­schen Schönheit ihrer Prosa den Seelen ihrer Figuren, ihren Erlebnis­sen und der Stadt Neapel einen eigen­artigen Zauber zu verleihen.


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