Rezension zu »Ogni madre« von Savina Dolores Massa

Ogni madre

von


Erzählungen · Maestrale · · 208 S. · ISBN 9788864291086
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Sardinien

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Taschenbuch

Die wahren Protagonisten sardischer Geschichte

Rezension vom 05.12.2013 · 6 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Savina Dolores Massa schreibt Geschichten, die so herb sind wie die Insel, auf der sie sich zutragen. Im Vorwort erklärt sie, sie habe »creature« schaffen wol­len, »che si aggirassero tra avvenimenti e paesi della Sardegna passata«. Ihre Fi­gu­ren sind aber vor allem tief verwurzelt in der Ge­schich­te ihrer Vor­fah­ren und ihrer Heimat. Veränderung kommt immer von draußen, und was die neuen Zeiten den Menschen bringen, betrachten sie mit Be­frem­den und passiv, als wären sie nicht betroffen und als hätten sie die Wahl, es zu ignorieren.

Vincenza Demontis' unheimlich schöne Augen symbolisieren jene fatalen Kräfte des Verharrens: »portano solo disgrazie.« Vier Verehrer bezahlen ihren Anblick auf grausame Weise mit dem Leben, und als nur drei Monate nach der Hochzeit Vincenzas Ehemann tödlich verunglückt, wagt sie kein Mann mehr anzuse­hen. Alleine zieht sie ihren Sohn Candido groß.
Arrafiella Satta heiratet Candido aus Liebe, doch sie weiß, dass »le cose cattive non si sotterrano mai.« Sie ist deshalb fest entschlossen, auf Nachkommen zu verzichten, könnten sie doch die verhassten, ver­fluch­ten Augen der Schwiegermutter erhalten. In einem Moment des Mitleids gibt Arrafiella jedoch einmal nach und gebärt mit vierzig Jahren einen Sohn, Pissenti (»maledetto giorno, maledette pecore e maledetto il mio cuore molle!«).
Vater Candido will den Knaben dem Teufelskreis entziehen, ihn anderswo bilden lassen; der Mutter scheint das jedoch von Anfang an Sünde: »di presunzione, di vanità di fronte alle altre madri, con un des­tino già tracciato per i propri figli: povero e ignorante per tutta la vita.«
Nach seinen Studien kehrt Pissenti in sein Dorf zurück, voller aufklärerischem Enthusiasmus zum Wohle seiner rückständigen Bewohner, die zum größten Teil nicht einmal lesen und schreiben können. Doch er mutet ihnen zuviel zu, verletzt unbeabsichtigt ihren schlichten Stolz, bringt ihren stillen, heimtückischen Widerstand gegen sich auf, bis ihn schließlich eine anonyme Kugel tötet.
Da hatte ihn auch seine Mutter Arrafiella schon längst verlassen. Bei allem Schmerz weiß sie, dass alle Söhne des Dorfes gleich sind, jeder Sohn geschossen haben könnte, denn »l'orgoglio, ogni madre lo serve nel piatto cena dopo cena, per far andare i figli a dormire con la pancia più piena.« Die aufklärerischen Gedanken, die Pissenti ins Dorf gebracht hatte, hätten den Müttern ihre Söhne geraubt, den Kern der Ge­meinschaft zerstört.

Diese Geschichte (»Ogni madre«) endet im Jahr 1967. Alle dreizehn Texte der Sammlung, der sie ihren Titel gibt, sind an Phasen der sardischen Historie zwischen 1870 und den Sechziger Jahren des 20. Jahr­hunderts geknüpft. Jeder Erzählung ist ihr Kontext (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft) in zwei, drei Sätzen vorangestellt, ohne jedoch immer als Handlungselement konkretisiert zu werden. Vielmehr bietet er dem Leser eine Hintergrundfolie, vor der die geschilderten Schicksale eine Bedeutung gewinnen, die über ihre Individualität hinausweist.

Da erfahren wir von der Willkür der Feudalherren (»Baroni«), vom »banditismo«, vom Bau der Eisenbahn, vom systematischen Raubbau an den Wäldern, um Bahnschwellen und Holzkohle zu gewinnen, von den Arbeits- und Lebensbedingungen im Bergbaugebiet des Südwestens, von den Luftangriffen der Alliierten, von den Bemühungen aus Rom angereister Intellektueller, die sperrigen Sarden zu politischer Aktion an­zutreiben. In Episoden unverstandenen sozialen Wandels überdauerte die sardische Identität als einzig bleibender, verlässlicher Wert. Alle Einwirkungsversuche scheitern. »A voi sardi non si può insegnare nulla.«

So blieben die Sarden, wie schon seit vielen Jahrhunderten, in ihrer Rolle als ungefragte Leidtragende, aus­gebeutete Arbeitskräfte, allenfalls als misstrauische Zuschauer gefangen. Als Holzsammler, Köhler, Hirten, Bedienstete, Tagelöhner fristeten sie – viele bis Mitte des 20. Jahrhunderts – ein entbehrungsrei­ches Dasein, besitz- und rechtlos, oft genug unter geradezu steinzeitlichen Bedingungen und ausgeschlos­sen von elementarster Bildung (»Per Liccu, l’unica ricchezza di un uomo era la libertà, e solo gli anni potevano fargli curvare la schiena.«). Nutznießer blieben die, die das schon immer gewesen waren.

Von diesen Umständen sind viele Charaktere, von denen sardische Autoren erzählen, gezeichnet. Den Schwachen bleibt nichts als Lethargie, den Starken der Kampf um ihren spärlichen Einflussbereich – wenn es sein muss, auf Kosten des Nachbarn. Savina Dolores Massas Frauen prägen ihre Söhne, und wenn sie scheitern, verlieren sie ihre Sprache (»la lingua morta in anticipo su di lei«), sitzen reglos, ertragen starr (»La madre paralitica, seduta rigida su una sedia con le ruote frenate da sacchi di carbone«). Die Männer hüten und verteidigen als wichtigste Güter ihre Ehre und ihren Stolz: »Noi di dire a un altro sardo, Tu mi devi fare il capo, non ci riusciamo, noi.«

Savina Dolores Massa gehört zu der bemerkenswerten Gruppe junger sardischer Schriftstellerinnen, deren Texte stark verwurzelt sind in ihrer Inselkultur und -geschichte, auf deren Nährboden sie jedoch innovative literarische Erzählformen und sehr individuelle Stilfarben entwickeln [siehe meinen Überblick »Sardische Literatur aus hundert Jahren« auf Bücher Rezensionen].

Die Erzählungen in »Ogni madre« schöpfen aus, was die Gattung der short story an Potenzial zu bieten hat. Wir lesen von unerhörten Begebenheiten, sehen Menschen schlaglichtartig in einem Augenblick, der ihr Schicksal wendet, werden von Schlusspointen überrascht, lauschen dem intimen inneren Zwiegespräch eines Witwers mit seiner Frau, die sich umgebracht hat.

Savina Dolores Massa evoziert ungewöhnlich starke Eindrücke, die Sie nicht so schnell vergessen werden. Das liegt an der Präzision ihres Vokabulars, der Dichte ihres Satzbaus, der oft ein wenig verdreht ist wie der knorrige Stamm eines alten Olivenbaums oder bei dem Teile fehlen (»Niente stelle: spente.«). Ihr Stil ist karg oder inbrünstig, wie ihre Charaktere.

Immer wieder finden wir originelle, einprägsame Bilder (»contando formiche con le ali«, »dalle parole pro­nun­cia­te erano scomparse le vocali«) und Motive (z.B. an Märchen erinnernde formelhafte Wiederho­lun­gen: »E tu, Sofia, non mi hai mai sentito la voce.«), auch naturmagische Elemente (»in vetta a un monte ... decise di acchiappare due stelle per sostituire gli occhi della madre: spenti«), die jedoch durch die An­bin­dung an historische Fakten geerdet werden und dadurch umso stärkerere Wirkung entfalten.

In ihrem Vorwort bekennt Savina Dolores Massa: »Ai veri protagonisti della Storia va tutto il mio rispetto e il mio amore incondizionato, come pure alla mia incantatrice, ma spesso amara Isola.«


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