Liebe, Tod und Rache in einer archaischen Gesellschaft
Salvatore Niffoi lebt seit seiner Geburt 1950 in Orani, Sardinien. Bis 2006 unterrichtete er als Lehrer an einer Mittelschule. 1997 erschien in einem kleinen sardischen Verlag sein erster Roman »La leggenda di Redenta Tiria« (»Die Legende von Redenta Tiria« ). Der bis dahin unbekannte Schriftsteller überzeugte mit seinem Roman und errang Ansehen innerhalb der zeitgenössischen italienischen Literaturszene. Inhaltliche Parallelen entdeckt man mit der sardischen Autorin Michaela Murgia (»Accabadora« [› Rezension]). Sein literarisches Vorbild ist Carlo Levis berühmter Roman »Cristo si è fermato a Eboli« (»Christus kam nur bis Eboli«) [› Rezension].
Für »La vedova scalza« (»Die barfüßige Witwe«) erhielt er 2006 den Premio Campiello.
Die "barfüßige Witwe" ist Mintonia, genannt Mintò, die 1915 in einem Dorf der Barbagia, dem Land der Viehhirten und Banditen im Herzen Sardiniens, geboren wird. Sie ist eins von elf Kindern einer armen Familie. Sie ist fasziniert von Büchern, darf die Grundschule besuchen und lernt lesen und schreiben. Tziu Imbece, genannt »der Antichrist", weil er Kirche und Pfaffen hasst, vermacht Mintò nach seinem Tod 500 Bücher – in diesem großen Schatz findet sie Werke von Balzac, Zola und anderen großen Literaten, vor allem aber von Gracia Deledda, der sardischen Nobelpreisträgerin von 1926, deren naturalistische Literatur das harte Leben auf ihrer Insel beschreibt. Ihre Hauptfiguren sind oft Frauen, die in Konflikten um Ehre, Glauben und gesellschaftliche Vorurteile zerrieben werden.
Mintò verliebt sich in den Banditen Micheddu, einen Rebellen, der sich gegen die Gesetze und den Faschismus auflehnt. Als man ihm den Mord am Bürgermeister anhängt, können sich die Beiden nur noch im Geheimen treffen. Der Roman beginnt 1938 mit dem Ende ihrer Liebe: Man bringt Mintò ihren ermordeten Mann, den man bestialisch mit einer Axt zerhackt hat. Sie kennt den Mörder, lässt den Hass wachsen, größer werden wie ihren Sohn Daliu, sie plant ihre Blutrache und ihre Flucht nach Argentinien.
Dort schreibt sie ihre Lebensgeschichte auf, die sie kurz vor ihrem Tod 1985 in einem Paket an ihre Nichte Itriedda nach Sardinien schickt. Ihr will sie die Wahrheit beichten, denn sie soll nicht endgültig verloren gehen.
So gestaltet sich der Roman inhaltlich in Sprüngen. Mintò berichtet von ihrem leidgeprüften, demütigenden Leben, schlechten Ernten, Krankheiten, ihren Visionen und Träumen, aus denen sie schweißgebadet vor Angst erwacht. Vom Pfarrer wird sie verflucht und missbraucht, von den Carabinieri drangsaliert, hinter ihrem Rücken als Hure beschimpft; ihr Haus wird immer wieder durchwühlt, das Mobiliar bepinkelt. Und natürlich berichtet Mintò von ihrer großen Liebe Micheddu. Der ist ein wilder Naturbursche, lebt als Vogelfreier und – was Mintò nicht wahrhaben will – betrügt sie ausgerechnet mit der Frau des Carabiniere.
Niffois Sprachstil, den er Mintò auf die Zunge legt, ist sehr derb, geradezu archaisch. Auch in der deutschen Ausgabe sind kurze Sätze im sardischen Originaldialekt belassen (kursiv gedruckt und anschließend übersetzt) – ein Verfahren, das mir sehr gut gefallen hat, verstärkt es doch die Authentizität des Textes. Die Atmospäre des Romans ist trotz der gleißenden Sonne voller Düsternis. Die Barbagia ist ein Ort des Leidens auf Erden, ein Ort der Verdammten, die nur leben, um eine gottgewollte Strafe zu büßen und sich gegenseitig nur Böses zufügen. Der Wahnsinn bleibt nicht aus, wenn man den Teufel fürchtet und vor Zauberei und Flüchen nicht gefeit ist.
Sardinien ist noch heute eine ganz spezielle Landschaft im Italien der Neuzeit. In den Enkeln lebt die Vergangenheit ihrer Vorfahren weiter, die in unvorstellbaren Verhältnissen gelebt haben. Salvatore Niffois packender Roman besticht durch seine Sprache ebenso wie durch seinen Inhalt und hält mehr als nur ein Stück Zeitgeschichte fest: eine ganze Welt, die uns in all ihrer Härte und Fremdheit in ihren Bann schlägt.