Bambinate
von Piergiorgio Paterlini
Eine kleine Gruppe zehn- bis elfjähriger Jungs misshandeln ohne jede Hemmung einen schwächeren Mitschüler. Fünfzig Jahre später versucht einer von ihnen die anderen zur Rede zu stellen.
Ohne Mitgefühl
»Bambinate« – Kindereien –, das ist, was Kinder anstellen, wenn sie allein oder gemeinsam mit anderen agieren. Solches Verhalten kann uns Erwachsenen albern, ungeschickt, unbedacht, ziel- und zwecklos erscheinen. Wir sehen befremdet zu und schmunzeln. Selbst wenn die Kinder in ihrem Spiel gegen Regeln verstoßen, sind wir geneigt, großmütig darüber hinwegzusehen, denn ›es sind halt Kinder‹, und die dürfen noch in ihrer eigenen Welt leben, eigene Regeln haben.
Dieser Verharmlosung kindlichen Verhaltens widerspricht Piergiorgio Paterlini. Der Journalist und Schriftsteller (Jahrgang 1954) findet, es werde dramatisch unterschätzt, was tatsächlich unter Kindern abläuft. Es gehe um Kräftemessen und Machtausübung, und das noch ohne jedes Korrektiv wie Ethik und Moral. Da der dünne Lack der Zivilisation gewiss nichts Angeborenes ist, sind Kinder keine Unschuldslämmer, sondern können herzlose Bestien sein, bis sie Mitmenschlichkeit erlernen. Zitate von Augustinus, Mark Twain und Pier Paolo Pasolini lassen keinen Raum für Illusionen: »I ragazzi sanno raffinatamente come far soffrire i loro coetanei: e lo fanno molto meglio degli adulti perché la loro volontà di far soffrire è gratuita: è una violenza allo stato puro. [ …] La loro pressione pedagogica su te non conosce né persuasione, né comprensione, né alcuna forma di pietà, o di umanità.«
Umso stärker sind die Euphorien der kindlichen Sieger, umso desaströser die Beschädigungen, die die Verlierer davontragen. In der Tat wissen wir seit Langem, dass unsere lebenslange Persönlichkeitsentwicklung entscheidend von Kindheitserfahrungen geprägt wird. Doch warum sind wir Erwachsenen dann zumeist zur Nachsicht bereit, verklären die Kindheit – auch unsere eigene –, als wäre sie eine durchgehend heile Welt, eine unbeschwerte Zeit des Erkundens, des harmonischen Spiels im beschützten Raum? Solche Fragen sind es, denen Paterlini in »Bambinate« nachgeht.
Der Roman hat zwei Handlungsstränge. Im ersten – etwa ein Fünftel des Gesamtumfangs – lesen wir, wie eine Handvoll zehn- bis elfjähriger Jungen einen viel schwächeren Mitschüler demütigen und brutal misshandeln. Im zweiten kehrt einer aus der Horde fünfzig Jahre später in sein Heimatstädtchen in der Bassa Padana zurück, um zu erkunden, wie die anderen dieses Geschehen verarbeitet haben.
Ermes, Franco, Maurizio, Olmo und der Erzähler haben Denis schon seit Jahren als Opfer ihrer Beleidigungen und Handgreiflichkeiten auserkoren. Der Junge ist ausgemergelt, in sich gekehrt, stottert, wehrt sich nicht. Sie nennen ihn »Semo«, eine Verballhornung von »scemo«. Am Karfreitag 1965 eskaliert ihre Aggressivität. Unter Führung von Ermes bespucken sie Denis, schlagen, treten, entkleiden und misshandeln ihn sexuell, zerren ihn auf einen nahegelegenen Hügel, fesseln ihn, binden den Blutenden an ein Holzkreuz und machen sich davon.
Diese Torturen schildert der Erzähler minutiös und prägnant. Während Ermes immer neue Grenzen überschreitet und die anderen mehr oder weniger mitmachen, bleibt der Erzähler auf Distanz. Mit einer Mischung aus Mitleid, Abscheu und Unverständnis, aber auch Neugier beobachtet er das Geschehen, ohne einzugreifen. Seine Aufmerksamkeit gilt vor allem Ermes und dem, was in seinen Augen aufleuchtet: Hass, Verachtung, Sadismus, Triumph und Grenzenlosigkeit der Macht.
Der Inbegriff des Leidens ist die Passion Jesu. Deshalb hat der Autor Denis’ Leidensweg explizit in Beziehung zu Jesu Kreuzigung gesetzt. Es ist Karfreitag, der Weg der Gruppe führt aus der Stadt zu einem Hügel, auf dem das Kreuz steht, die Misshandlungen steigern sich in Stufen, verschiedene Erwachsene begegnen der ziehenden Gruppe und reagieren auf das, was sie wahrnehmen. Damit niemand die Parallelisierung übersieht, ist die Handlung in Kapitelchen unterteilt, die mit den Stationen der Passion überschrieben sind: »Getsemani – La soldataglia – Il Sommo Sacerdote – Le Pie Donne – Golgota – Il Cireneo – Crucifige – Pilato – Deposizione«.
Die pathetische Überhöhung ist unnötig. Paterlini will ein psychologisch erklärliches Phänomen illustrieren, das auch ohne Rekurs auf die Bibel relevant ist. Die erwachsenen Passanten sehen die Kinder, aber verstehen nicht annähernd, was vor sich geht. Sie sind zu gleichgültig und blind, denn ihr Blick ist verklärt von der üblichen Auffassung, was Kindheit sei. Sie halten schon das Beisammensein für ein Miteinander, Denis’ Passivität für schüchterne Zurückhaltung, und sie ermuntern alle, nur brav so weiter zu spielen.
Die biblische Figur, die der Erzähler schon als Kind am meisten hasste, ist Pontius Pilatus, »chi lasciava colpire un innocente sapendolo innocente«. Er hätte verhindern können, ließ aber geschehen, »deciso di non decidere«. Ihn findet der Erzähler noch schlimmer als Judas, »l’amico che tradisce«. Er begreift, dass er ebenso versagt hat wie Pilatus, weiß sich aber zu exkulpieren: »Li avevo lasciati colpire. Ero stato a guardare. Me n’ero lavato le mani. Ma cosa potevo fare? Io da solo. E comunque dentro di me avevo odiato la loro ferocia e provato pena per Denis. Non si poteva dire fossi stato veramente complice.« Mit dieser Gewissenslast muss der Erzähler ein halbes Jahrhundert lang leben, so weit er sich auch aus seiner Heimat entfernt.
Die übrigen vier Fünftel des Romans berichten kurz, wie der Erzähler nach dem Abitur seine Heimat verlassen und in Amerika eine Familie gegründet hat, schildern aber hauptsächlich, wie er exakt fünfzig Jahre nach dem schrecklichen Karfreitagsgeschehen zurückkehrt. Anlässlich des Klassentreffens reist er aus New Jersey an – unangekündigt, um die früheren Kameraden unvorbereitet anzutreffen. Wie durch zahlreiche Vorausverweise angekündigt, verfolgt er einen Plan. Mehr anzudeuten würde die Spannung gefährden.
Wie wohl erwartet werden muss, hat das Geschehen scheinbar keine Spuren hinterlassen. Die kindlichen Bestien sind zu farblosen Spießern mutiert. Sie geben vor, sich nicht zu erinnern, und wollen auch nicht erinnert werden. Andere Probleme haben ihr Leben schwer genug gemacht, es bereitet ihnen Mühe, eine einigermaßen harmonische Fassade aufrecht zu erhalten. Verantwortung sehen sie keine, Neid und Minderwertigkeitsgefühle gegenüber dem vermeintlich erfolgreicheren, glücklicheren Besucher, der nun alte »bambinate« aufzuwärmen sucht, belasten die Gespräche.
Wie sie als Kinder tatsächlich waren, können Erwachsene nicht einmal mehr nachvollziehen. Dies ist eine Schutzfunktion. Die Männer können nicht zulassen, dass sie als Knaben ihre eigenen Gelüste auf Kosten eines unschuldigen Schwächeren ungehemmt ausgelebt und dabei schlimme Dinge angerichtet haben. Sie verdrängen unangenehme Wahrheiten und erklären die komplette Phase der Kindheit als harmonisch und harmlos, denn nur so ist es ihnen möglich, Frieden mit sich zu machen. Damit wird das Missverstehen der Kindheit perpetuiert.
Paterlinis Roman ist lesenswert, weil er die übliche Idyllisierung der Kindheit in Frage stellt. Er schildert dazu mit feiner psychologischer Einfühlung ein erschütterndes Extremverhalten von Kindern und Erwachsenen. Wie letztere mit ihrer Vergangenheit umgehen, erscheint vollkommen plausibel. Insofern ermahnt uns der Autor, dass wir unsere Verantwortung als Vorbilder und Erzieher unserer Kinder auf uns nehmen.
Leider ist der zweite Handlungsstrang (der 2015 spielt) etwas dünn und in die Länge gezogen, und wer nach der Lektüre kritisch zurückblickt, der wird sich fragen, ob die Handlungsweise dieses Erzählers – das Ende eingeschlossen – konsistent und überzeugend ist.